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Nikolaus Lenau
Gedichte 1848

Erstes Buch

Stuttgart und Augsburg
1848
J. G. Cotta'scher Verlag


Gestalten

 

Der ewige Jude
Heloise
Der Schmetterling
Auf meinen ausgebalgten Geier
Der gute Gesell
Der traurige Mönch
Weib und Kind

 
Die drei Zigeuner
Die nächtliche Fahrt
Vision

 

Der ewige Jude


Ich irrt' allein in einem öden Tale,
Von Klippenkalk umstarrt, von dunklen Föhren;
Es war kein Laut im Hochgebirg zu hören,
Stumm rang die Nacht mit letztem Sonnenstrahle.

Für ernste Wandrer ließ die Urwelt liegen
In diesem Tal versteinert ihre Träume:
Dort sah ich einen Geier durch die Bäume
Wie einen stillen Todsgedanken fliegen.

Nun kam ein Regen; daß der Himmel weine,
Erkennt das Herz an kahlen Felsenriffen,
Wo es vom Regen traurig wird ergriffen,
Daß er nicht wecken kann die toten Steine.

So ruft umsonst ein Strom von heißen Tränen
Den Trümmern ausgetobter Leidenschaften:
Wach auf, blüh' aus deinen Todeshaften,
O Liebe! süßes Quälen! Hoffen! Sehnen!


Das Erz nur kann ich aus den Schlacken zwingen,
Mit Lebensgluten es dem Tod entlocken
Und gießen zu lebend'gen Liedesglocken,
Die, Wehmut weckend, durch die Welt erklingen.

"Dahin, dahin des Lebens helle Stunden!
Mir nachtet's, Tal, wie dir! ich wollt' ich wäre
Versunken, eh' mein Licht versank, im Meere!"
Ich rief's und ließ ausbluten meine Wunden.

Und heft'ger regnet's; von erwachten Winden
Ward Wolk' an Wolke brausend zugetragen;
Wie zu des Herzens jüngsten Tränen, Klagen
Sich alter Schmerzen ferne Quellen finden. —

Stets dunkler ward's im Tale, lauter immer,
Sturzbäche durch die Felsengassen sprangen.
Es wimmerten die Winde, schluchtverfangen,
Und Donner schlug; — den Geier sah ich nimmer.

Wo war der Geier? wo der Todsgedanke?
Der Geier muß in einer Ritze ducken,
So lang die Klagen das Gebirg durchzucken;
Sein Leben fühlt und liebt im Schmerz der Kranke.

Nur Einem ist, ob schweigend oder stürmend,
Die Welt stets einerlei und stets zuwider,
Denn rastlos muß er wandern aus und nieder,
Jahrtausendhoch die Todeswünsche türmend. —
Schon sucht ich in den Bergeseinsamkeiten
Ein Lager mir, da kam ein Rauch geflogen,
Als wär' er gastlich nach mir ausgezogen,
Zur waldversteckten Hütte mich zu leiten.

Ich späht' umher, bald sah ich Kerzenschimmer
Durch dunkle Tannen, hörte Menschenworte;
Bevor ich einschritt in die offne Pforte,
Blickt' ich durch's Fenster in das niedre Zimmer.

Ein Greis, bemüht, die braunen Rückenhaare
Zu einem Gemsbart waidgerecht zu schlichten,
Saß schweigend und wie sinnend aus Geschichten
Und Jägerstreiche seiner rüst'gen Jahre.

Hoch stand sein Sohn, vom Ruß die Büchse putzend,
Mit Schultern, die den Hirsch bergüber trügen,
Mit scharfen und entschlußgewohnten Zügen,
Wie sie der Raubschütz hat, dem Tode trutzend.

Die Hausfrau stand am Herd, die Mahlzeit kochend,
Rief durch die Tür herein, daß sie bald fertig,
Denn ihre Kinder saßen schon gewärtig,
Mit froher Ungeduld am Tische pochend.

Und ich empfand, als ich das Bild betrachtet:
Ein Herz, das Lieb' und Sorge dicht umhegen,
Ist glücklich; und ein Herz aus stolzen Wegen,
Aus Irrfahrt großer Wünsche — herb verschmachtet.

Der Hütte Not manch' bunter Schmuck verhüllte;
Viel Heil'genbilder, Braut- und Taufgeschenke
Verzierten blank die Wände rings und Schränke,
Trinkgläser auch, vielleicht noch nie gefüllte.

Schön ist die Armut, wenn sie, keusch verhangen,
Im rohen Sturm als eine Jungfrau schreitet,
Die Hüllen sorglich um die Blößen breitet,
Den Feind besiegend mit verschämten Wangen, —

Eintrat ich in die Stube, froh willkommen,
Dem Wildrer gab ich ehrlich meine Rechte,
Ihn nicht zu liefern an des Forstes Mächte,
Und ward zu Herberg herzlich aufgenommen.

Die Wirte suchten ihren Gast zu ehren
Mit derber Kost, mit derben Jägerstücken,
Wie sie die Wächter und das Wild berücken,
Von Gemsen, wie sie fielen, Luchsen, Bären.

Der Schütze wies und pries mir seine Stutze,
Mit welchen schon sein Vater einst, der Alte,
Als frischer Jung in diesen Bergen knallte:
Mir wies die Frau, was sie besaß an Putze.

Sie ließ mir, kindlich, bunten Flitter schauen;
Doch mehr als Ringlein, Perlenschnur und Spangen,
Hielt eine Münze meinen Blick gefangen
Und traf mein Herz mit wunderlichem Grauen.

Die Münze bleiern sah so traurig blinkend,
Fast wie ein brechend Auge, das Gepräge
War Christus mit dem Kreuz am Leidenswege,
Nach Ruhe schmachtend und zusammensinkend.

Nie war ein Bild, gemalt vom heil'gen Schmerze,
In all den reichen kunstgeschmückten Hallen
So klagend an die Seele mir gefallen,
Wie dieses Bild, geprägt im grauen Erze.

Nun schien der Mond herein; die Kinder schliefen,
Der Alte murmelte den Abendsegen,
Dann ward es still; vorbei war Sturm und Regen,
Nur draußen hört' ich noch die Tannen triefen.

Und als ich starrt' auf's mondbestrahlte Bildnis.
Ward mir, ob sich's in meiner Hand belebe,
Als ob sein Geist mit mir von hinnen schwebe,
Ich war hinausentrückt zur Felsenwildnis.

Und Alpenlerchen hört' ich jubelnd schmettern,
Und Adler sah ich steigen in die Lüfte,
Die scheue Gemse springen über Klüfte,
Den Jäger nach im Morgenröte klettern.

Die Büchse knallt, die Gemse stürzt vom Felsen,
Sie hört nicht mehr das Echo donnernd wandern
Von Berg zu Berg; doch hören es die andern
Und lauschen schreckhaft mit gespannten Hälsen.

Des toten Tieres, zitternde Genossen
Stehn still, so lang die Widerhalle dauern,
Sie hören Schüsse rings von allen Mauern,
Wohin sie flüchten sollen, unentschlossen;

Jetzt eilen sie windschnell davon und schwinden
Im Felsgeklüft; ob sie nur Angst durchzittert?
Daß man die Weide ihnen so verbittert,
Ob sie des Menschen Unrecht nicht empfinden?

Der Bock, den dieser Schuß herabgerissen
Vom Felsenhang, wo ihn sein Leben freute,
Hängt von des Jägers Schulter nun als Beute,
Hält in den Zähnen noch den Kräuterbissen.

Wie jetzt der Raubschütz aus geheimen Wegen
Mit seinem Raube will davon sich machen,
Hört er's Gerüll von schweren Tritten krachen,
Ihm kommt ein riesenhafter Greis entgegen.

Der Alte blickt aus dichten Augenbrauen,
Die Föhrenbüscheln, glutversengten, gleichen;
Der Urkalk rings scheint mit dem starren, bleichen
Antlitz des Manns aus einem Stück gehauen.

Er ruft dem Jäger: "Halt!" mit einer Stimme,
Daß lauter als zuvor die Berge schallen.
Daß fliehend vom Geklipp die Gemsen fallen,
Und seine Keule schwingt der Greis im Grimme.

Doch steht er fest im engen Schluchtenpfade,
Und harrt mit hocherhobner Todeswaffe,
Daß der bestürzte Jäger auf sich raffe
Und seine ausgeschoss'ne Büchse lade.

Indes in seiner Rechten droht die Keule,
Reißt seine Linke von der Brust die Hülle,
"Schieß her!" ruft sein toddürstendes Gebrülle,
"Sonst stirb!" ruft sein todlechzendes Geheule.
Erstaunen und Entsetzen überschleiern
Des Jägers Blicke; doch die Büchse faßt er,
Und schüttet Pulver, drückt darauf das Pflaster,
Und in den Lauf treibt er die Kugel bleiern.

Er zielt und schießt aufs Herz dem wilden Recken:
Doch wie geprallt an eine Felsenscheibe,
So klatscht die Kugel ab von seinem Leibe,
Den Jägersmann zu Boden wirft der Schrecken.

An ihm vorüber rauscht der grause Alte,
Den's weiter treibt, umsonst den Tod zu suchen;
Der Schütze hört noch lang sein fernes Fluchen,
Bis ihm der letzte Laut im Wind verhallte.

Der ew'ge Jude rief! "Nur ich von Allen
Kann unglückselig nie die Ruhe finden!
O könnt' ich sterben mit den Morgenwinden,
Und wie mein Wehruf im Gebirg verhallen!

Ich bin mein Schatten, der mich überdauert!
Mein Widerhall, am Felsen festgenagelt!
Ein Halm, aus den es ewig niederhagelt!
Ein flücht'ger Lichtstrahl, in den Stein gemauert!

Weh mir! ich kann des Bilds mich nicht entschlagen,
Wie er um kurze Rast so flehend blickte,
Der Todesmüde, Schmach, und Schmerzgeknickte,
Muß ewig ihn von meiner Hütte jagen!" — —

Und als es stille war im Felsenschlunde,
Erhob sich scheu und schlich zur grausen Stelle,
Wo seine Kugel traf, der Waidgeselle
Und nahm sein plattgequetschtes Blei vom Grunde.

Und zitternd kam er auf mich zugeschritten
Und reichte mir das Blei, ich nahm's mit Grauen:
Zur Münze war's geprägt, aus der zu schauen
Des ew'gen Juden Herzqual eingeschnitten.

Die Münze bleiern sah so traurig blinkend,
Fast wie ein brechend Auge, das Gepräge
War Christus mit dem Kreuz am Leidenswege,
Nach Ruhe schmachtend und zusammensinkend —

Da weckten meine wirtlichen Genossen
Mit lautem Ruf zurück mich in das Zimmer,
Als ich erwacht, hielt meine Hand noch immer
Das Zauberbild, vom Mondenlicht umflossen.

Heloise

Im Klostergarten steht ein steinern Bild.
Ein Kruzifix so ernst, versöhnungsmild.
Oft in der Nacht, der ungestörten, späten,
Geht Schwester Heloise hin, zu beten,
Auch heute kniet sie dort am Marmorstamme
Und fleht um Kühlung ihrer Herzensflamme:
"O Gott! nachdem du hast für uns gelitten,
Geklagt, geweint, empfangen Todeswunden,
Wird unglückliche Liebe noch gesunden?
Hat sie nicht ausgeweint und ausgestritten?
Hilf! rette mich aus diesen Finsternissen
Der Zweifel, die mein blutend Herz umnachten!
Nach Ihm, nach Ihm nur muß ich ewig schmachten,
O Gott! hier liegt mein Herz vor dir zerrissen!
Umsonst, daß ich empfing den frommen Schleier,
Daß ich zum strengen Orden mich bekannte,
Noch immer seh' ich meinen süßen Freier,
Wie er beim letzten Lebewohl sich wandte
Du selbst hast ihn zum Gatten mir erkoren;
Oft, wenn ich Wort und Küsse mit ihm tauschte,
War mir, ob Himmelsbeifall mich umrauschte;
Kannst du mich trösten, daß ich ihn verloren?
Du kannst es nicht, muß zitternd ich bekennen,

Ich sterbe hin in meiner Leidenschaft,
Es muß mein Herz mit seiner letzten Kraft,
Dir abgewandt, in dieser Glut verbrennen.
Und wenn ich das Verlorne und Versäumte,
Als hätt' ich es, in süßen Nächten träumte,
Vergib, mein Gott! daß ich in meinen Schrecken,
Wenn kalt die Schwestern mich zur Hora wecken,
Nach Truggestalten strecke meine Hände,
Vergötternd mich zu meinen Träumen wende.
Verzeih, wenn ich oft kniend am Altare
Zu knien mein' an meiner Freudenbahre,
Und daß in mir verlornes Mutterglück
Aufschreit: gib mir den Bräutigam zurück!
Im Mondlicht seh' ich hier dein Antlitz schimmern,
Die Winde seufzen durch den Blütenstrauch;
Ich kam zu beten, doch im Windeshauch
Hör' ich mein unempfangnes Kindlein wimmern.
Ich bin so arm, verlassen und beraubt,
Nichts kann ich mehr zum Opfer und Geschenke
Dir bringen, Gott! als das mein müdes Haupt
Ich hier zu deinem heil'gen Kreuze senke.
Daß ich die Wange kühl' an deinem Steine,
Wenn ich die Nacht um Abälard verweine.


Der Schmetterling

Es irrt durch schwanke Wasserhügel
Im weiten, windbewegten Meer
Ein Schmetterling mit mattem Flügel
Und todesängstlich hin und her.

Ihn trieb's vom trauten Blütenstrande
Zur Meeresfremde fern hinaus;
Vom scherzend holden Frühlingstande
In's ernste, kalte Flutgebraus.

Auf glattgestreckte, sanfte Wogen
Hatt' ihm das Meergras trügerisch
Viel schön're Wiesen hingelogen,
Wie westgeschaukelt, blumenfrisch.

Ihm war am Strand das leise Flüstern
Von West und Blüte nicht genug,
Es trieb hinaus ihn, wählig lüstern,
Zu wagen einen weitern Flug.

Kaum aber war vom Strand geflogen
Des Frühlings ungeduld'ges Kind:
Kam sausend hinter ihm gezogen
Und riß ihn fort der böse Wind;


Stets weiter fort von seines Lebens
Zu früh verlornem Heimatglück;
Der schwache Flattrer ringt vergebens
Nach dem verschmähten Strand zurück.

Von ihrem Schiffe Wandersleute
Mit wehmutsvollem Lächeln seh'n
Die zierlich leichte Wellenbeute,
Den armen Schmetterling vergeh'n.

O Faust, o Faust, du Mann des Fluches!
Der arme Schmetterling bist du!
Inmitten Sturms und Wogenbruches
Wankst du dem Untergange zu.

Du wagtest, eh' der Tod dich grüßte,
Vorflatternd dich in's Geistermeer;
Und gehst verloren in der Wüste,
Von wannen keine Wiederkehr.

Wohl schauen dich die Geisterscharen,
Erbarmen lächelnd deinem Leid;
Doch müssen sie vorüberfahren,
Fortsteuernd durch die Ewigkeit.

Auf meinen ausgebalgten Geier

1.
Du stehst so still und ernst, mein ausgebälgter Geier,
Ich bringe dir ein Lied mit meiner ernsten Leier.

Zwar hörst du nichts davon, dir geht mein Gruß verloren;
Doch Dichter sind gewohnt, zu singen toten Ohren.

Es lebt ja noch der Geist, der einst dir gab die Schwingen,
Den traf der Jäger nicht, er hört mein Lied erklingen.

Und wenn kein Menschenohr auch meinem Sange lauschte,
So hört mich doch der Geist, der mir das Herz berauschte.

Ich wollt', ich wäre jetzt in fernen Felsenklüften,
Und du hoch über mir, still kreisend in den Lüften;

Ich ließe froh mein Aug' mit deinem Fluge schweifen,
Und wie du niederfährst, die Beute zu ergreifen;

Wie du, atmender Blitz, zu Boden niederzückest
Und mit den Krallen scharf ein warmes Leben pflückest;

Wie du das volle Herz ansetzest als ein Zecher,
Daß mit dem Leben trinkt der Tod aus einem Becher.


Traun! milder ist der Tod, trotz Blut und Jammerstimme,
Wo heiße Lebenslust sich paart mit seinem Grimme.

Als wo kein Leben ist beim letzten Hauch zu sehen,
Wo still der Tod uns dünkt ein einsames Vergehen.

Ihr Weinenden am Sarg, an seinem dichten Schleier,
O kommt in's Felsental mit mir und meinem Geier!

O kommt, Unsterblichkeit will die Natur euch lehren,
Mit diesem Blute will sie trösten eure Zähren.

Im Kreischen dieses Aars, mag's auch die Sinne stören,
Ist für die Seele doch ein süßer Klang zu hören.

Hier findet Trost ein Mann, ward ihm ein Glück zunichte,
Und näher tritt er hier dem Rätsel der Geschichte.

Der Geist, der heiß nach Blut hieß diesen Geier schmachten,
Es ist der starke Geist zugleich der Völkerschlachten;

Ein rasches Pochen ist's, ein ungeduldig's Drängen
Der Seele, ihren Leib, den Kerker, aufzusprengen.

Den großen Kaiser hat einst dieser Geist durchdrungen,
Er hat ihm hoch sein Schwert zur Völkermahd geschwungen;

Dem Jäger, der als Wild die Menschheit trieb im Zorne
Durch's Dickicht seines Heers und Bajonettendorne;

Der, wie das Schicksal, fest beim Wehgeheul der Schmerzen,
Saatkörner seines Ruhms, warf Kugeln in die Herzen;

Und der auf Helena, wenn rings die Meersflut schäumte,
Beim Sturme sich zurück in seine Schlachten träumte —

Mehr als ein blut'ger Tod macht es mein Herz erbeben,
Wenn unsichtbarer Hauch verweht ein Menschenleben;

Wenn über's Angesicht das Spiel vom letzten Schmerze
Hinzittert wie der Rauch der ausgelöschten Kerze.

Doch furchtbar ist der Tod, ein Grauen nicht zu zwingen,
Wenn eine Seuche kommt, die Völker zu verschlingen.

Der Kaiser liegt im Grab, die Menschen wollen Frieden,
Da ward nach lautem Schreck ein stiller herbeschieden,

Viel tausend Leben hat die Seuche fortgenommen,
Als hätte die Natur Verzweiflung überkommen,

Als wäre die Natur gejagt von einem Fluche,,
Daß mit geheimem Gift den Selbstmord sie versuche.

Ein Geier ist der Krieg, Herzblut ist sein Verlangen,
Die Seuche, still und glatt, ist vom Geschlecht der Schlangen.

Wo diese Schlange schleicht, fliegt ihr voran das Grauen,
Weil wir die Schlange nicht und ihren Rachen schauen

Doch wie der wilde Aar, mit seinen scharfen Fängen,
Will auch die Schlange nur das Leben vorwärts drängen.

2.
Du toter Geier stehst noch immer wild und edel,
Und neben dich gestellt hab' ich den bleichen Schädel.

Ich lasse dir nach ihm den Schnabel niederhangen,
Als hättest du gespeist das Fleisch von seinen Wangen.

Es mag an diesem Bild sich gern mein Blick entzünden,
Sehnsüchtig träumen sich nach Himalayagründen.

Den Ganges will ich dort abholen an der Quelle,
Und ziehn mit ihm hinab, sein lauschender Geselle.

Der Ganges rauscht vorbei an einem Totenacker,
Und Geier fliegen schnell heran, die Leichenhacker.

Hier Gentlemen, Hindu und Moslemim beisammen,
Die lustig nach Hurdwar zur lauten Messe kamen.

Die Schlange Cholera mit mörderischer Tücke
Verschlang sie rasch und spie sie schwarz und kalt zurücke.

An manchem Herzen jetzt die Geier zehrend haften,
Wie noch vor einem Tag die heißen Leidenschaften.

Die Raben tummeln sich am Rest des Geiermahls,
Und gierig springen dran Wildhunde und Schakals.

Und Störche ziehn heran, gefiederte Giganten,
Vom strenggemeßnen Schritt geheißen Adjutanten.

Wie sie auf ihren Fraß zuschreiten leis und sacht,
Unhörbar: ist allein, was hier mich grauen macht:

Und wie bedächtig sie den Schnabel klappernd wetzen;
Nur die Methode weckt mir grieselndes Entsetzen.

Dort Leichen führt hinab der Ganges, dumpf erbrausend,
Viel Geier sitzen drauf und schwimmen mit, fortschmausend;

Und andre folgen satt, mit müßigem Geflatter
Dem Leichenzuge nach, wild schwärmende Bestatter.

Hier bin ich rings umbraust von heißem Lebenstriebe,
Natur! hier rauscht dein Kuß der heft'gen Mutterliebe.

Hier muß das Grauen selbst der Seuche sich verlindern,
Seh' ich, Natur, wie du hier schwelgst in deinen Kindern!

Fort wird das Bild des Tods vom Lebenssturm getragen,
Der Siegesruf verschlingt mir alle Todesklagen.

Und mit den Geiern dort, die um die Leichen schwanken,
Lass' fliegen ich am Strom Unsterblichkeitsgedanken.

Der gute Gesell

Des Menschengeschlechts uralter Gefährte,
Der nie von seiner Seite gewichen
Seit dem Verluste des Paradieses,
Wo er mitleidig sich angeschlossen;
So lang auf Erden ein Mensch noch atmet;
Der unbekannte, der namenlose
Wohltäter der armen sterblichen Menschen,
Er sei gepriesen von meinem Liede,
Der alte treue gute Gesell

Als der Mensch gebrochen mit seinem Gotte,
Und als der elektrische Schlag der Sünde
Durch die ganze lange Kette der Herzen
Vom ersten Ahne zum fernsten Enkel
Erschütternd schlug das Geschick des Todes
Und die weithin tönende Klage;
Als die ersten Tränen aus Erden floßen.
Der Morgentau des schmerzlichen Tages;
Als hinter dem ersten Menschenpaare
Sich donnernd geschlossen des Edens Pforte:
Da folgte den weinenden Fortgewies'nen
Der gute Gesell, nachtragend heimlich
Aus dorniger Bahn ein Freudenbündel,
Das er noch eilig zusammengerafft
Im Eden, für ihre traurige Flucht, —

Kein strenger Richter, kein scharfer Denker,
Kein Weiser ist der gute Gesell;
Doch ist er ein Cicerone der Schöpfung,
Ein wortgewandter mit warmem Herzen.
Er führt uns an die Werke des Meisters,
Und weiß er nicht viel vom tiefen Geheimnis,
Vom Sinn und Geiste des ewigen Meisters,
So weiß er von den herrlichen Bildern
Doch süß zu schwatzen, mit funkelndem Auge,
Daß friedlich und wohl uns wird im Herzen.

Kein Weiser ist der gute Gesell,
Doch ein zauberkundiger Menschenfreund.
Die Armut schmerzt und der bittre Mangel:
Inmitten der irdischen Güter flehn,
Wie sie blühn und vergehn, und selbst vergehn,
Und sie nie gekannt und genossen haben:
Das schmerzt am Ende, wenn noch so leise. —
Da kommt der gute Gesell in die Hütte,
Wo der arme Mann mit Weib und Kindern
Beim Abendmahl sich's behagen läßt,
Den Kienspan zündend und seinem Häuflein
Die Lust am kärglichen Mahl beleuchtend,
Der Zauberer kommt und schüttet heimlich
In die Schüssel allen Wohlschmack der Erde;
Und der arme Mann ist froh und betrachtet
Sein Weib, einst schön gepriesen und reizend,
Nun welk von Sorgen und Mutterliebe;
Doch sieht er es nicht, die blassen Wangen
Hat ihr geschmückt der gute Gesell
Mit unverwelklicher Herzensjugend. —
Der einsame Wandrer im fremden Gebirg,
Der, ohne Heimat und Reisepfennig
Entgegenzweifelt der Nachtherberge:
Mit einmal fühlt er den Mut gehoben
Und schreitet rüstig durch's dämmernde Tal,
Und fester greift er den Wanderstab,
Denn der unsichtbare gute Gesell
Geht mit und lüpft ihm die schwere Bürde,
Und raunt ihm ein lustiges Hoffnungsliedlein;
Er hat die Vögelein aufgestiftet
Und das hüpfende Bächlein angemuntert,
Ihm auch zu singen ein Hoffnungsliedlein.
Und findet das Lied auch nie Erfüllung,
So hat's doch wohlgetan zur Stunde;
Der gute Gesell nimmt's nicht so genau. —
Dort liegt an Ketten im finstern Kerker,
Den Tod erwartend, ein Verbrecher;
Jetzt naht dem Unglückseligen leise
Der gute Gesell und schenkt erbarmend
Ihm einen festen, gesunden Schlaf;
Noch steckt er ihm zu den guten Bissen,
Nachsichtig heimlich, hinter dem Rücken
Des bösen Gewissens, der Todesfurcht. —

Er weiß die trüben Erinnerungen,
Die bangen Zweifel, verlorne Sehnsucht
Allmählig der Seele zu entwenden,
Wie die Mutter dem Kind ein schneidend Gerät,
Womit es spielen möchte, verriegelt.
Undankbar hab' ich ihn fortgewiesen,
Wenn er mich heilsam bestehlen wollte,
Wenn er mich freundlich wollte beschenken
Dann ward er schüchtern und scheu zuletzt,
Und immer seltner kam er und seltner.
Verscheuchter Gefährte meiner Jugend.
O komm zurück und verzeih den Undank,
Du lieber, milder, guter Gesell! —

Wer ist er denn, der gute Gesell?
Woher des Weges? wie heißt sein Name?
Wir spüren ihn Alle, doch nennt ihn Keiner.
Es ist die Hoffnung vielleicht sein Kind,
Es ist der Glaube vielleicht sein Bruder,
Und seine Mutter gewiß die Liebe,
Er ist ein heimlicher, namenloser
Wohltäter der armen sterblichen Menschen.

Der traurige Mönch
Nach einer Sage

In Schweden steht ein grauer Turm,
Herbergend Eulen, Aare;
Gespielt mit Regen, Blitz und Sturm
Hat er neunhundert Jahre;
Was je von Menschen hauste drin,
Mit Lust und Leid, ist längst dahin.

Der Regen strömt, ein Reiter naht,
Er spornt dem Roß die Flanken;
Verloren hat er seinen Pfad
In Dämmrung und Gedanken;
Es windet heulend sich im Wind
Der Wald, wie ein gepeitschtes Kind.

Verrufen ist der Turm im Land,
Daß Nachts, bei hellem Lichte,
Ein Geist dort spukt in Mönchsgewand.
Mit traurigem Gesichte;
Und wer dem Mönch in's Aug gesehn,
Wird traurig und will sterben gehn.

Doch ohne Schreck und Grauen tritt
In's Turmgewölb der Reiter,
Er führt herein den Rappen mit,
Und scherzt zum Rößlein heiter:
"Gelt du, wir nehmen's lieber auf
Mit Geistern als mit Wind und Trauf?"

Den Sattel und den nassen Zaum
Entschnallt er seinem Pferde,
Er breitet sich im öden Raum
Den Mantel auf die Erde,
Und segnet noch den Aschenrest
Der Hände, die gebaut so fest.

Und wie er schläft und wie er träumt
Zur mitternächt'gen Stunde,
Weckt ihn sein Pferd, es schnaubt und bäumt.
Hell ist die Turmesrunde,
Die Wand wie angezündet glimmt;
Der Mann sein Herz zusammennimmt.

Weit auf das Roß die Nüstern reißt,
Es bleckt vor Angst die Zähne,
Der Rappe zitternd sieht den Geist
Und sträubt empor die Mähne;
Nun schaut den Geist der Reiter auch
Und kreuzet sich nach altem Brauch.

Der Mönch hat sich vor ihn gestellt,
So klagend still, so schaurig,
Als weine stumm aus ihm die Welt,
So traurig, o wie traurig!
Der Wandrer schaut ihn unverwandt,
Und wird von Mitleid übermannt.

Der große und geheime Schmerz,
Der die Natur durchzittert,
Den ahnen mag ein blutend Herz,
Den die Verzweiflung wittert,
Doch nicht erreicht — der Schmerz erscheint
Im Aug' des Mönchs, der Reiter weint.

Er ruft: "O sage, was dich kränkt?
Was dich so tief beweget?"
Doch wie der Mönch das Antlitz senkt,
Die bleichen Lippen reget,
Das Ungeheure sagen will:
Ruft er entsetzt: "Sei still! sei still!"

Der Mönch verschwand, der Morgen graut,
Der Wandrer zieht von hinnen;
Und fürder spricht er keinen Laut,
Den Tod nur muß er sinnen;
Der Rappe rührt kein Futter an,
Um Roß und Reiter ist's getan.

Und als die Sonn' am Abend sinkt:
Die Herzen bänger schlagen,
Der Mönch aus jedem Strauche winkt,
Und alle Blätter klagen.
Die ganze Luft ist wund und weh —
Der Rappe schlendert in den See.

Weib und Kind

Ein schwüler Sommerabend war's, ein trüber,
Ich ging fußwandernd im Gebirg allein,
Und ich bedachte mir im Dämmerschein
Was mir noch kommen soll, was schon vorüber.

Kein Windhauch zog, die ernsten Tale ruhten,
Und wunderbar war mir das Fernste nah;
Der Tannwald stand ein fester Bürge da,
Daß sich noch alles wenden wird zum Guten.

Mir kam ein armes Bauernweib entgegen:
"Gelobt sei Jesus Christus!" sprach sie mir;
"In Ewigkeit!" so dankt' ich freundlich ihr;
Es ist der beste Gruß auf dunklen Wegen.

Ihr folgt' ein kleines Mägdlein, halb erschrocken,
Als sie mich sah und ich die Hand ihr bot;
Sie mühte sich mit einem Bissen Brot
Ein zögernd Kälblein mit sich heim zu locken.

"Kumm, Kalberl, Kimm! so rief das Kind dem Tiere;
Das klang so innig, lieblich und vertraut,
Daß ich der Unschuld heimatlichen Laut
Aus meinem Herzen nimmermehr verliere.

Lang blickt' ich ihnen nach, bis sie verschwunden.
Und daß ein Leben schön und glücklich nur,
Wenn es sich schmiegt an Gott und die Natur,
Hab' ich aus jenem Berge tief empfunden.

Die drei Zigeuner

Drei Zigeuner fand ich einmal
Liegen an einer Weide,
Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
Schlich durch sandige Heide.

Hielt der eine für sich allein
In den Händen die Fiedel,
Spielte, umglüht vom Abendschein,
Sich ein feuriges Liedel.

Hielt der zweite die Pfeif im Mund,
Blickte nach seinem Rauche,
Froh, als ob er vom Erdenrund
Nichts zum Glücke mehr brauche.

Und der dritte behaglich schlief,
Und sein Zimbal am Baum hing,
Über die Saiten der Windhauch lief,
Über sein Herz ein Traum ging.

An den Kleidern trugen die drei
Löcher und bunte Flicken,
Aber sie boten trotzig frei
Spott den Erdengeschicken.

Dreifach haben sie mir gezeigt,
Wenn das Leben uns nachtet,
Wie man's verraucht, verschläft, vergeigt
Und es dreimal verachtet.

Nach den Zigeunern lang noch schaun
Mußt ich im Weiterfahren,
Nach den Gesichtern dunkelbraun,
Den schwarzlockigen Haaren.

Die nächtliche Fahrt

Zu öd' und traurig selbst den Heidewinden
Sind diese winterlichen Einsamkeiten,
Nur Schnee und Schnee ringsaus in alle Weiten,
Nur stiller, keuscher, kalter Tod zu finden.

Hier ist's umsonst, nach frohem Ton zu lauschen,
Singvögel sind geflohn von diesem Grabe,
Den Schnabel in die Federn hüllt der Rabe,
Und eingefroren ist der Bäche Rauschen.

Sieht man den Wald so tief in Tod versunken,
Will man's nicht glauben, daß er jemals wieder
Ausgrünt im Lenz, daß je hier seine Lieder
Ein Vogel singt, vom Frühlingshauche trunken.

Es glänzt der Eichenwald in Eisesklammern;
Jetzt Wölfe heulen am verschneiten Grunde,
Wie Bettler, hungerwach, in nächt'ger Stunde
Am Grabe eines milden Königs jammern.

Dort fährt ein Schlitten aus der blanken Wüste,
Der Kutscher treibt die ausgestreckten Pferde,
Als ob mit seinem Fuhrwerk er die Erde
Vor Sonnenaufgang noch umrennen müßte.

Drei Hengste sind's, rasch wie des Nordens Lüfte,
Ein jeder trägt das werte Probezeichen
Der Schnelligkeit im rüstigen Entweichen,
Die Narbe des Wolfsbisses an der Hüfte.

Ein Glöcklein trägt das Mittelroß der Gabel,
Zum Glöcklein tanzend fliehn vorbei die Bäume
Am Schlitten, trüb, wie schnellvergeßne Träume,
Der Wald entflieht wie eine bleiche Fabel.

Die schnellen Renner sind mit Eis behangen,
Das klirrend an den schwarzen Mähnen zittert,
Der Rosse Rücken ist mit Reif umgittert:
Der Tod will sie mit kaltem Netze fangen.

Gekauert sitzt, gehüllt vom Bärenkragen,
Der Wojewod im Schlittenkorbgeflechte
Still hinter seinem pelzverhüllten Knechte,
Der manchmal pfeift, die Pferde anzujagen.

Dem Schlitten folgt in klarer Mondeshelle
Ein zweiter nach, mit gleichgeschwinden Rennern,
Befrachtet auch mit zwei verhüllten Männern,
Und aus der Heide klingelt seine Schelle.

Die Nacht ist grimmig kalt; o Wandrer meide
Den Schlaf; hörst du das Glöcklein nicht mehr schlagen.
So wird's vom Rosse dir vorangetragen
Dein wandernd Sterbeglöcklein aus der Heide.

Der Bäume Leben floh zum Grund hinunter;
Gib, Wandrer, acht, daß nicht auch deine Seele
Zu ihrem Grunde sich hinunterstehle,
Wenn du einnickest; Wandrer, halt dich munter!

Bist du ein Jäger, denke an ein Wildern;
Hast du ein Lieb, denk' an ihr süßes Lager;
Wenn Haß dich wurmt, der scharfe Herzensnager,
So halt dich wach und warm mit Rachebildern! —

Ha! Wölfe! seht, ein ganzes Rudel Tode!
Sie folgen, eine nachgeschleifte Kette,
Die Todesangst, der Hunger rennen Wette,
Und ohne Furcht bleibt nur der Wojewode.

Es kracht der Schnee, schnell sind die grauen Horden,
Doch schneller sind, Gottlob! die braven Hengste,
Die Rappen sind im Drang der Todesängste
Plötzlich wie junge Raben flügg geworden.

So fliehn sie weite Strecken, angstgetrieben;
Die Männer schießen schreckend die Gewehre
Vom Schlittenborde nach dem grausen Heere,
Bis nach und nach es ist zurückgeblieben.

Nun halten sie; die Pferde dampfend schwitzen
Und schnauben aus den Nüstern sich das Bangen;
Drei treten in die Schenke und verlangen
'nen Becher Wein, doch bleibt der Woiwod sitzen.

Da springt der Wirt, ein Jude, an den Schlitten
Und macht dem Gaste tiefe Reverenzen:
"Darf ich, Herr Wojewod, euch nicht kredenzen
Wein, Brot und einen feinen Bratenschnitten?"

Und mit Gelächter ruft der Kutscher drinnen:
"Dem schmeckt kein Braten und kein Gläschen Roter,
Der ißt nicht, trinkt nicht, friert nicht, ist ein Toter,
An dem, Hebräer, wirst du nichts gewinnen!

"Im Zweikampf ist der gute Herr geblieben,
Sein Erzfeind, Russe, hat ihn totgeschossen;
Ich fahre meinen schweigenden Genossen
Heim in die Gruft vorausgegangner Lieben.

Bald aber hätt' ich ihm die Treu zerrissen,
Denn wären uns die Wölfe näher kommen,
So hätt' ich ihn nicht weiter mitgenommen,
Ich hätt' ihn, uns zu retten; hingeschmissen.

Ich meine immer noch sein Blut zu schauen,
Wie's rauchend in den weißen Schnee gequollen,
Wie sich's nicht bergen konnte in den Schollen;
Das Bluteis darf im Frühling erst zertauen!"

Sie fahren weiter mit verhängtem Zügel
Fort über Brücken, Zäune, Teich' und Bäche,
Denn alles hat der Schnee gefüllt zur Fläche,
Und gleichgefegt der Wind mit seinem Flügel.

Nur manchmal blickt der Kutscher nach dem Toten;
Noch sitzt er da, das Haupt vorunterneigend,
Wie er gesessen, unbekümmert, schweigend,
Als hinterher die grimmen Wölfe drohten.

Das Mordblei, das den Wojewoden fällte
Und stecken blieb in seinem Eingeweide;
Der Schnee, der rings bedeckt Podoliens Heide
Sein Herz — sind alle drei von gleicher Kälte.

Der Wind erwacht und rasselt an der Föhre,
Das Glöcklein schallt, es dunkelt vor den Rossen,
Am Himmel zieht der bleiche Mond verdrossen
Den Wolkenmantel zu, als ob er fröre —

Das mahnt uns an die Träume eines Zaren,
Der gerne möcht' in winternächt'gen Stunden,
Das Ruhmesglöcklein an sein Roß gebunden,
Das tote Polen durch die Heide fahren.

Vision

Vom Himmel strahlt der Mond so klar,
Greif aus, o Rappe, greif!
Im Winde fliegt des Reiters Haar,
Des Rosses Mähn und Schweif.

Auf seinem Hut der Reiter trägt
Gemsbart und Federnputz,
Ein schmerzliches Gelächter schlägt
Er auf und schwingt den Stutz.

Der Reiter sprengt um Mitternacht
Durchs Land Tirol, allein;
Der Waldstrom braust und stürzt mit Macht,
Der Reiter holt ihn ein.

Die Schneegans dort hoch oben ruft
Ihr schnatternd Wanderlied,
Schnell zieht der Vogel in der Luft,
Der Reiter schneller flieht.

Schnell ist der Wolkenschatten Flucht,
Der Reiter schneller noch,
Kaum braust er in der tiefen Schlucht,
Schon auch am Gipfel hoch.

Wo das Gebein der Helden liegt,
Gibt er dem Roß die Sporn,
An den vergeßnen Gräbern fliegt
Er wild vorbei im Zorn.

Am Wege dort ein Kruzifix,
Des Unglücks Herberg, ragt,
Seitwärts gewandten finstern Blicks
Vorbei der Reiter jagt.

So reitet er durchs Land Tirol
Und ruft so bang, so schwer:
"Mein schönes Land, leb wohl! Leb wohl!
Du siehst mich nimmermehr!"

Das letzte Heldengrab zerreißt,
Der Reiter stürzt hinein,
Grab zu. Verschwunden ist der Geist
Von Achtzehnhundertneun.