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Auserlesene
altdeutsche Gedichte

Neu deutsch umgearbeitet von
Johann Grafen Mailáth

Stuttgart und Tübingen 1819
in der Cotta'schen Buchhandlung


Der Tugend-Kranz   Wie ein Mann aus seines Herrn Hulden kam   Der Weltmensch
 

Moralische Gedichte
 
Die Erklärungen und Einführungen in die Gedichte sind vom Hrsg.

Der Dichter zählt die Tugenden in Gestalt von Blumen auf, die am Himmelswege blüh'n.
Dies zarte Gedicht, dessen Verfasser unbekannt ist, wurde von einem späteren Dichter mit einer langen Einleitung, und zum Schluß mit einem Aufruf an die Caritas vermehrt, aber nicht verschönert.
Hier ist Beides weggeblieben und nur der ursprüngliche Tugend - oder Seelen-Kranz, wie er in einigen altdeutschen Handschriften heißt, umgearbeitet.

 

Der Tugend-Kranz

Wer auf der Himmelsstraß' will geh'n,
Trifft edle Blumen wunderschön,
Die ihm den Pfad andeuten
Und sanften Weg bereiten.
Es ist ihr Duft so süß, so gut,
Daß sanft er Jesu Christo tut.
Und wer zum Kranz sie ringet,
Den Jesu Christo bringet:
Der wird ihm gar willkommen sein,
Und auch der lieben Mutter sein.

Die Blumen, die man da erblickt,
Die wachsen zwar im Himmel nicht,
Doch sind sie dort gar vieles wert,
Und alles ihrer sehr begehrt.
Darum bemühe jeder sich
In seinem Leben fleißiglich,
Daß er die Blumen pflücke,
Und sich mit ihnen schmücke;
Denn der nur sieht des Himmels Glanz,
Der all' die Blumen flicht zum Tugend-Kranz.

Die Blumen will ich alle nennen,
Daß ihr sie möget kennen:
Die Eine heißet L o b mit D e m u t,
Und das ist eine Blume gut,
Die großes Lobes ist
Vor unsern Herren Jesus Christ,
Es steht noch eine Blume da,
Die heißt Obedientia,
G e h o r s a m heißt das Blümelein.
Und dieses muß im Kranze sein,
Sein Duft, der ist so süß und reich,
Daß sein gelüstet Gott im Himmelreich.

Zwei Blumen ihr noch merken sollt,
Sie heißen E i n f a l t und G e d u l d,
Die beiden, die sind nicht die kleinsten,
Gott sieh't sie, wie die höchsten, und die reinsten
Vielgern vor seinem Antlitz steh'n.
Man muß sie an dem Kranze seh'n.
Noch eine Blume Gott erfreut,
Ihr Name ist Barmherzigkeit.
Ihre Gespielin steht dabei,
Ich wähn', daß es die M i l d e sei.
Verschmäht die beiden Blumen nicht;
Groß ist im Himmel ihr Gewicht.

Und will man weiter vorwärts geh'n,
Da findet man zwei Blumen Steh'n:
K a s t e i u n g ist die ein' genannt,
Und M ä ß i g k e i t, der Welt bekannt;
Und willst du gut das Kränzlein winden,
Mußt die zwei Blumen drein du binden.
Noch ist das Kränzlein nicht vollbracht.
Süßes G e b e t und reine A n d a c h t,
Das sind zwei Blumen mild und schön,
Gefällig in des Himmels Höh'n,
Die kranke Seele wird gesund,
Wenn man sie leget in den Mund.

Es glänzt 'ne Blume in der Ferne,
Die heißt: G o t t e s W o r t hör' ich gerne;
Die zieret wohl der Engel Kranz,
Sie gibt vor Gott gar lichten Glanz.
Wir sollen an den Straßen
Selbe nicht stehen lassen.
Drei edle Blumen wohl gestellt
Hab' ich euch noch nicht aufgezählt,
Sie heißen: Taciturnitas (S c h w e i g e n)
Die Gott stets minnend was, (war)
Die zweite heißet S a n f t m u t,
Die dritte ist s t a n d h a f t e r M u t,
Zum Kranz mußt du sie ringen,
Mußt sie zum Himmel bringen.

Noch eine Blume sollst du kennen,
Will sie der besten eine nennen,
Sie heißet: G e r n e  w e i n e.
Sie ist der besten eine,
Denn Gott durch ihren Willen tut
Alles, was ihr nur dünket gut.
Noch eine Blume seh' ich dort,
Ihr Name ist ein selt'nes Wort,
T r e u e  heißt das Blümelein,
Sie mag der besten eine sein.

Nun treten wir gar fröhlich vor
Hin zu dem Himmels-Tor;
Da seh'n zwei Blumen her
Deren bedarf man sehr,
Daß man sie stecket an den Kranz,
Sie geben einen lichten Glanz,
Sie heißen: G l a u b und H o f f n u n g.
Ich sag' es dir mit wahrer Zung,
Wer all' die andern Blumen fand,
Doch die zwei nicht zum Kranze band:
Dem werden alle Bumen bleich,
Der kommt nicht in das Himmelreich.

Nun wohl, hinan zum letzten Tor;
Da steht noch eine Blume vor,
Die Blume ist die letzte,
Und ist die allerbeste.
Wer zu der Pforte ein soll geh'n,
Der sieht sie in der Türe steh'n,
Halb außen, und halb inne:
Das ist die w a h r e  M i n n e.
Und keine Blume ist ihr gleich,
Sie reicht weit in das Himmelreich;
Wie es den andern Blumen auch ergeh',
Diese erfalbet nimmermehr.
Die Blume rief von seines Vaters Land
Herab zur Erde Gott,
Wo er sich allen Martern unterwand,
Und litt' für uns den bittern Tod.

Nur wer an seinen Schattenhut
Die himmelschöne Blume tut,
Zu all den andren Blumenschar,
Der hat den Kranz bereitet gar.
Doch wer so glücklich ringet, (vollendet)
Daß er den Kranz vollbringet:
Der ist selig-geboren,
Er hat den besten Teil erkoren.

Wie ein Mann aus seines Herrn Hulden kam

Das Weltleben; Frau, Kinder und Verwandte; und des Menschen
gute Werke werden in Gestalt dreier Freunde vorgestellt, und das
Verhältnis, in welchen sie zu einem Sterbenden stehen, treffend
angegeben. Der Gedanke zu diesem Gedicht ist aus den Talmud entlehnt, aber hier schöner durchgeführt.



Es kam ein Mann ans eigner Schuld
Aus seines Herren Huld.
Der Mann aber war dumm,
Bewarb sich nicht darum,
Daß wieder ihm die Huld würde,
Und auch die schwere Bürde
Geringer würde; das war Unrecht.
Da sandt der Herre einen Knecht
Vielzorniglich nach ihm, und sprach:
Weil ich ihn dünke also schwach,
Daß er mir gar nicht bessern* will,
Wird ihm kein Kindesspiel;
Hin muß er Leib und Leben
Für seine Schuld mir geben.

*
Bessern, wird hier für Versöhnen gebraucht, und bedeutet, sich dem Wunsche,
oder der Meinung des andern nähern. Daher noch jetzt im Österreichischen,
wenn zwei über den Kaufpreis irgend einer Sache nicht einig sind, die Redeweise
üblich: Sie müssen sich bessern.


Als nun des Herren Bote kam,
Der Mann von ihm vernahm,
Daß er zu Hofe sollte
Und man ihn töten wollte:
Ging er zu seinem liebsten Freund, und sprach:
Vernahmst du schon mein Ungemach?
O lasse nun genießen mich,
Daß ich hab je geminnet dich.
Auf diese Klag'
Der Freund unfreundlich sprach:
Es werde wohl dir oder schwer,
Ich mag, will dir nicht helfen mehr.
Ein Tuch will ich dir geben,
Das soll dir taugen,
Wenn dir genommen wird das Leben
Zum Band für deine Augen.


Vor Schrecken fast der Arme starb;
Doch er besann sich bald und warb
Bei einem Freund, daß er ihn möcht' erlösen.
Dem sagt' er seine Klage;
Der Freund ist nach dem falschen ihm gewesen
Der liebste alle seine Tage,
Der Freund, der sprach zu ihm:
Wohl steht es mit dir schlimm,
Daß ich dir lieb gewesen bin*
Und dich bedaure, sollst du sehen:
Denn ich will mit dir zieh'n,
Will weinen gehen,
An deines Herren Tor
Und klagen, wenn dir Leid geschieht;
Doch bleib' ich steh'n davor,
Mit dir hinein geh'n kann ich niht.

*Daß ich für deine Liebe dankbar bin.

Der arme Mann begann zu weinen;
Da fiel ihm ein, er hab' noch einen,
Der oft ihn wollt zum Freunde ha'n, (haben)
Allein dem wenig Gutes er getan.
Er dacht' in seinen Sinnen,
Den will ich mir gewinnen.
Als er denselben sah,
Weinend er zu ihm sprach:
O weh! viellieber Freund mein,
Nun muß ich klagend sein,
Daß ich bis jetzt dich wollte hassen.
Die haben mich verlassen.
Denen ich einstens Minne bot;
Nun ist mir deine Hülfe Not.
Da sprach der Freund: du sollst durch mich genesen,
Ob ich auch lang verschmäht gewesen;
Ich will mit dir zu Hofe geh'n
Und will für deine Schuld steh'n.
Ich war dir stets mit Treuen hold;
Die Treue mein ist rein wie Gold.
Das sollst gewahr
Du werden. Er ging mit ihm dar,
Und der sein mind'ster Freund was
Der half ihm, daß er wohl genas.

Dem Herren gleichet Gott.
Gar viele sind, die sein Gebot
An manchen Dingen übergeh'n;
Doch müssen sie vieltraurig steh'n,
Wenn Gott nach ihnen schickt den Tod.
Da wird viel Leiden, da ist Not.
Denn wenn der Mann Tod wird geseh'n,
Da ist's um seiner Freunde Hülf gescheh'n;
Es bleibt zurück sein Erdengut;
Das ist der Freund, der ihn verlassen tut.
Der gibt, wie ich gesagt vorher,
Ein schwarzes Tuch ihm, und nicht mehr.
Den Freund, den er nachher besandte,*
Sind Kinder, Weib, Verwandte;
Die geh'n mit ihm bis an des Herren Tor,
Das ist das Grab, da steh'n sie vor
Und klagen ihr Leid, und auch das sein,

*Besandte, den er um Hilfe angesprochen. Gewöhnlich wird das Wort Besenden
gebraucht, wenn man durch einen Mittler oder Boten jemand ansprechen läßt.


Sie erzeugen ihm ganzer Treue Schein.*
Der Freund, den er verschmäht hat,
Der in der Not ihm gibt Rat,
Wenn Weib, Verwandte, Kind
Von ihm geschieden sind,
Das ist der Menschen gute Tat,
Die er begangen hat.
Sind seine Werke gut,
So kommen sie zur rechten Zeit,
Machen den Weg ihm weit;
Der Herr wird durch sie wohlgemut,
Erläßt ihm seine Schuld
Mit aller Gottes-Huld.

*Schein ist hier nicht für Falschheit gebraucht, es  heißt: Ihre Treue wird sichtbar.

Der Weltmensch

Ein allegorisches, kindlich empfundenes Gedicht über des Menschen
Leben, und seine Neigung zur Weltfreude.


Wer der Welt folgt, gleicht dem Mann,
Der Not von einem Tier gewann.
Es war das Tier ein Einhorn groß,
Das grimmig auf den Menschen schoß.
Es brachte so den Mann in Not,
Er fürchtete sich vor dem Tod.
Und wie er vor dem Einhorn lief
In einen Abgrund tief
Fiel er herab von einer Wand.
Im Fall erfaßt noch seine Hand
'Nen Baum, an den hing er sich an;
Das fristete denselben Mann.*
Er schwang sich ohne Rast
Auf zu des Baumes Ast.

*Das rettete den Mann. Man sagt auch: das Leben fristen.

Dieselbe Stätte war so schmal,
Daß er daran nicht mochte sta'n; (stehn)
Wenn er das Bäumlein mußte la'n, (lassen)
Hätt er getan 'nen großen Fall.
Der Baum schlecht gewurzelt was,
Stand ohne Kraft auf wenig Gras.
Zwei Mäuse kamen nun heran,
Die eine schwarz, die andre weiß.
Sie kehrten allen ihren Fleiß,
Daß sie mit scharfem Zahn
Des Baumes Wurzeln nagten ab,
Sie wollten ob den Wurzeln siegen.
Und in den Abgrund sah' der Mann hinab,
Da sah' er einen Drachen liegen,
Tief unter ihm im Tal,
Der harrte auf des Mannes Fall.
Die Augen und der Atem sein,
Die gaben wie das Feuer Schein;
Weit auf riß er den Mund,
Da drang die Flamm' zur Stund
Heraus, wie aus des Ofens Grund.

Und aus dem Grase hoben sich
Vier große Würmer fürchterlich;
Die strebeten mit Grimm und Rasen
Wegzutilgen den Wasen,
Auf dem das Bäumlein stand,
Auf dem der Mann seine Rettung fand.
Wohl war der Mann in großer Not,
Vor Augen schwebet ihm der Tod. —
Da sah' er auf dem Ast,
Den er erfaßt
Und auf dem er nun saß,
'Nen Honig fließen. Er aß
Den Honig zur selben Stund,
Ließ triefen sich den Honig in den Mund;
Ob groß auch seine Not,
Ob nah' ihm auch der Tod,
Wie ängstend auch, was er rings sieht,
Den Honigtropfen ließ er nicht.

Wer's nicht begreift mit seinen Sinnen schnell,
Dem mach' ich diese Rede hell.
Die Grube, darein fiel der Mann,
Die deutet euch die Welt an.
Das Einhorn ist der Tod,
Der alle Menschen bringt in Not.
Das Bäumlein ist das Leben,
Das uns ist gegeben.
Die Mäuse zwei,
Die mit der Zähne Macht
Des Baumes Wurzeln nagen entzwei,
Sie sind der lichte Tag, die finstre Nacht,
Der Drache mit dem Feuerschein,
Der ge'n den Mann auftut den Mund,
Er ist der Hölle Grund.
Was mögen wohl die Schlangen sein?
Die sind der Elemente Kraft,
Und was die Erde Süßes schafft,
Wird uns im Honig kund.
Der jenem träufet in den Mund,
Und der ob diesem Tropfen klein
Vergaß aller der Not sein.
Dies Bild ist euch gegeben,
Daß ihr erkennt der Erde unstet Leben.