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Vergiß, o Menschenseele
Nicht, daß du Flügel hast!

      Emanuel Geibel
 

III. Aus der Gegenwart
Lieder
 

Frühlingszauber
Erkenntnis
Wahlverwandtschaft
Die blaue Blume
Heimweh
Halt' ein!
Runenschrift
Als Wand'rer naht zu flücht'ger Rast
Kirchlein am Walde
Abwehr
Sonnenhymne

 

Frühlingszauber


Poch' an die Herzen mit blühenden Zweigen,
Führ' um die Stirnen in lieblichem Reigen
Lüfte und Düfte der knospenden Welt!
Kläre den Sinn, den die Sorgen bedrängen,
Süß und verheißend mit Vogelgesängen,
Frühling, vom sonnigen Himmel erhellt!

Kannst du die Blüten der Sträucher entfalten,
Kannst du die Gräser der Heide gestalten,
Sänftigst die Stürme du schmeichelnd und lind —
Lieblicher Herrscher! so ruf' ich aus den Tiefen
Andere Blumen und Töne, die schliefen —
Weck' auch im Menschen das hoffende Kind!

Erkenntnis

Kannst du in geliebten Zügen
Wecken seliges Genügen,
Das die Worte scheut und spart,
Wecken jenen Freudenschimmer
Immer unvergeßlich, immer!
Nur durch deine Gegenwart?

Ob sich Liebe dir verkündet,
Ob sich Freundschaft dir verbündet,
Ob auf solche Art dir beut
Junger Lenz die erste Labe,
Ob dir seine letzte Gabe
So der Herbst entgegenstreut —

Sei's wie's sei! Was du empfunden
Und erkannt in jenen Stunden,
Ruf' es treulich dir zurück;
Denk' es, hast in bitt'ren Tagen
Wunden du davon getragen;
Du erlebtest reinstes Glück.

Wahlverwandtschaft

Du sprachst, als du zuerst genaht
Mir, liebevoll gesinnt:
Wie bist trotz mancher Geistestat
Du seelenjung — ein Kind!

Und unbekümmert, daß mein Sein
Vom Lenz hinüber rinnt
Schon in des hohen Sommers Schein —
Noch nanntest du mich Kind.

So ward für mich dies Wort geweiht,
Denn Liebe sprach es lind;
Und hat's nicht wahr gemacht die Zeit?
Ja — wurd' ich nicht dein Kind?

Strahlt mir dein Blick nicht traut und warm,
Wie Mutteraugen sind?
Und ist's mir nicht, als hätt' dein Arm
Gewiegt mich schon als Kind?

Ja! ähnlich diesem stärksten Band
Ist, was uns treu umspinnt,
Drum, wenn mir längst die Jugend schwand,
Nenn' immer mich dein Kind!

Die blaue Blume

Gleich einer Jungfrau, die, den Nonnenschleier
Erwartend, sich von allem Schmuck befreit,
Ihr langes Haar hinopfert vor der Feier
Und doch in wehmutvoller Lieblichkeit
So schön bleibt wie zuvor — so liegt vom Schauer
Des Herbstes schon gestreift, im Sonnenstrahl
Doch lächelnd in der allgemeinen Trauer,
Das unverwüstlich holde Alpental.

Sie ist verstummt, des Waldes traute Sprache:
Der süße Vogelsang ist ihm geraubt;
Dicht rauscht die Flut im klein geword'nen Bache,
Dicht säuselt's durch die Kronen, halb entlaubt;
Wer ginge durch die Flur, die lange verblühte,
Und dächte nicht an manch' begrab'nes Glück?
Wer riefe sich im eigenen Gemüte
Entschwund'nes Hoffen trauernd nicht zurück?


So klagt es auch in mir: "Vorbei auf immer
Die Zeit, wo uns die Lust vom Himmel fällt,
Wo uns das Sein verklärt mit holdem Schimmer,
Ein schöner Wahn, der uns die Seele schwellt!
Vorbei! der stummen Öde jetzt entgegen,
Die holdes Werden vom Vergehen trennt;
Denn nimmer blüh'n mir Blumen auf den Wegen,
So wie die Herbstflur nimmermehr sie kennt."

So sinnend, schaut' ich nieder auf die Scholle;
Und sieh! was sproßte aus dem Gras empor?
Der Berge holdes Kind, die wundervolle
Tiefblaue Genziane, noch im Flor.
Entzückt, als hätt' aus einem Zaubergrunde
Mein Seufzer plötzlich sie hervorgebannt,
Als brächte sie mir rätselhafte Kunde,
Blieb ihrem zarten Kelch ich zugewandt.


"O bist du", — sprach's in mir — "die blaue Blume,
Die holde Botin einer schöner'n Welt,
Dem Alltag fern in ihrem Heiligtume,
Die Lust, die uns im Traum vom Himmel fällt?
Das Glück, das nicht an Raum und Zeit gebunden,
Als Göttergabe durch die Herzen flammt,
Die Wärme, mit dem Sommer nicht entschwunden,
Der Frühlings, der dem Geistesschwung entstammt?

O blaue Blume, wunderbar entsproßen,
Verkünde meinem Herzen, was du bist!"
— Da war's, als hätt' sie leise mir erschlossen:
"Ich bin dir das, was du in mir ersiehst.
Vermag mein Anblick Freude dir zu geben,
Erschließt er dir noch eine Zauberwelt —
Was klagst du dann, daß nimmer dir im Leben
Mehr unverhoffte Lust vom Himmel fällt?!"


Heimweh

Nicht wähne, daß der heil'ge Born
Dir innerlich versiegt,
Wenn auf dem Pfad dich Stein und Dorn
Verwundet und bekriegt,

Wenn freudeleer an fremdem Ort
Sich weiterspinnt dein Sein,
Und überall das eine Wort
Dir tönt: Du bist allein!

Zum Heimwehbangen wendet sich
Die Muse traulich hin,
Denn tiefgesammelt innerlich
Empfängt sie solcher Sinn.

Geläutert Heimweh bleibt ja doch
Der echteste Gesang,
Der je zum fernen Himmel hoch
Und in die Tiefen drang.

Halt' ein!

Als im Gedankentausch die Rede schwillt
Und ich beklage, daß der Zeiten Flug
Dem Menschen aufdrückt manchen Schmerzenszug,
Der aus erlittener Enttäuschung quillt,

Da fragst du plötzlich: "Sprich, was nennst du so?
Wer täuschte dich? nicht weiß ich, wie das tut:
O glaube mir, die Menschen sind ja gut,
Und ihrer ward' ich oft von Herzen froh." —

— "Wer mich getäuscht? ich selber war's vielleicht!
Ich trage, seit ich denke, seit ich bin,
Wohl eine andre Welt in meinem Sinn:
Viel schöner ist sie, als mich diese deucht.

Den Himmel sah vor mir ich aufgetan
Und mich umgab die lichte Engelschar,
Den Ander'n wohl, doch mir nicht unsichtbar,
Bis ich mich fragen mußte: ist's ein Wahn?

Der wunderreiche Himmel stürzte ein —
Wer sagt's mit Worten, was ich damals litt,
Als Glaube mit Erkenntnis glühend stritt,
Und licht — und freudlos mir erschien das Sein?!

Doch unbesiegbar lebt' er auf in mir
Von neuem stets, der heiße Sehnsuchtsdrang,
Der ewig nach dem Ideale rang,
Und Menschen schmückt' ich aus mit Götterzier,

Mir teure Menschen" — 'Alles', wirfst du ein,
Ja, Alles dies war krankhaft doch in dir.' —
— "So sprichst du?" ruf ich aus, "so nennst du mir
Die Eigenart in meinem tiefsten Sein?

Das sage nicht!" — 'Ich muß,' erwiderst du;
'Ich muß ihn krankhaft nennen, diesen Drang,
Wenn er's auch war, der rührenden Gesang
In dir geweckt.' — Ich zwinge mich zur Ruh',

Wie wohl es kämpft in mir, und eile fort,
Doch heißes Weh — es bildet mein Geleit,
Und aus der wogenden Gefühle Streit
Ersteht mir immer neu dein bitt'res Wort.

Was mir ein heil'ger Strahl vom ew'gen Licht,
Was meiner reinsten Seelenfreuden Quell,
Mein Halt im Sein ist, der im Dunkel hell
Das Ziel mir zeigt, mir hebt die Zuversicht,

Mein Allerbestes sollte krankhaft sein?!
Du schmähst — und ist's auch nimmer dir bewußt —
Du schmähst den Gott in meiner tiefsten Brust —
O sprich das Wort kein zweitesmal — halt' ein!

Runenschrift

Auf einem lieblichen Hügel,
Von Lindenduft umweht,
Aus halb zerbröckelnden Steinen
Ein altes Denkmal steht.

Verwittert ist längst die Inschrift,
Die prangend einst verhieß
Die Taten oder Gedanken,
So hier die Nachwelt pries.

Ein großes Fragezeichen
Durchfurcht den mittleren Stein;
Hat Wetter, hat Sturm es gemeißelt?
Grub eine Hand es ein?

Gleichviel! es kündet beredter
Und wahrer als jedes Wort,
Was einzig unvergänglich
Besteht durch die Zeiten fort,

Umschwebend schon die Wiege,
Gelöst nicht in Grabesruh',
Die ewig bange Frage:
Woher? wohin? wozu?

Als Wand'rer naht zu flücht'ger Rast

Als Wand'rer naht zu flücht'ger Rast
— So meldet die Legende —
Der Herr als ungeahnter Gast,
Auf das er Segen spende.

Die Stunde wird auch dir zu Teil,
— Laß kalt sie nicht verrinnen! —
Da ungeahnt dir naht das Heil
Und Einlaß heischt nach Innen.

Es bleibt gar leicht dir unerkannt
In wechselnden Gestalten —
Drum sorge, daß nicht abgewandt
Du seist bei seinem Walten.

Laß Frühlingsluft und Frühlingslicht
Zu dir in vollen Zügen,
Verscheuch' die holde Schwalbe nicht
Auf ihren Wanderzügen.


Sie will vielleicht an deinem Haus
Ihr warmes Nest erbauen,
Und Glück und Friede sollen draus
Auf dich herniederschauen.

Pocht dir an's Herz ein scheuer Gast,
Der starr im Froste bliebe,
So laß ihn ein zu trauter Rast —
Es ist vielleicht die Liebe.


Kirchlein am Walde

Du Kirchlein am Walde, von Andacht erbaut,
Das segnend vom Bergkamm in's Tal niederschaut,
So ehrfurchterweckend und lieblich zugleich,
Ein Kindesaug', spiegelnd das himmlische Reich —
Wie wardst du mir teuer, wie bist du mir traut,
Seitdem ich, fast Kind noch, zuerst dich erschaut!

Nicht sammeln sich Sonntags in gleißender Zier
Voll weltlicher Eitelkeit Menschen in dir,
Nicht opfert auf deinem so schlichten Altar
Der Priester in prunkenden, gold'nem Talar,
Nicht wallfahrten irdische Wünsche herein,
Ein Wunder erflehend und opfernd am Schrein.

Gesammelten Sinnes nur steigt zu dir auf,
Wer fern von der Dinge alltäglichem Lauf
Des göttlichen Dulders und Heilands gedenkt
Und dann in sein besseres Selbst sich versenkt.
Ist doch als Kalvarienhöhe geweiht
Der Berg, den du krönst in der Waldeinsamkeit.

O Kirchlein am Walde, wie wall' ich so gern
Dir zu, dem Getriebe des Tages so fern!
Der Wald hinter dir war mein heiliger Hain:
Denn weihevoll trat ich zum Gotte dort ein,
Der früh mir die Seele gelöst im Gesang,
Ihm priesterlich dienend aus innerstem Drang.

O Kirchlein! wie rauschte vorüber im Flug
Der Zeiten zerstörender, schaffender Zug,
Seitdem ich, fast Kind noch, zuerst dich erschaut,
Auf lieblicher Höhe, von Andacht erbaut!
Doch segnend wie damals noch schaust du ins Land, —
Und niemals entweiht' ich mein Priestergewand.

Abwehr

Ihr wollt in meinen Sommertagen
Erlauschen neuer Lieder Schall?
Ertönte nicht in Lust und Klagen
Mein Lied mit Lerch' und Nachtigall?

Vom Lenz erwartet, was sein eigen,
Den Blütenduft, den Vogelsang;
Der Sommer mag gelassen schweigen,
Bis ihm ein tief'res Werk gelang.

Die Jugend trägt in's eig'ne Sehnen
Oft ungestüm das All hinein,
Die Reife lernt in Lust und Tränen:
Das Leben muß  g e t r a g e n  sein.

Mag auch der Baum in Blüten stehen,
Vom ersten warmen Strahl gestreift —
Erst Sonnenglut und Sturmeswehen
Und Zeit hat seine Frucht gereift!

Sonnenhymne
Als Epilog

Quell des Urlichts, strahlendes Himmelsauge,
Schöpferhauch des Ewigen, den kein Wort nennt,
Herr des Erdballs, einziger Lebenswecker,
Du, unser Alles!

Du, zu dem der Geist wie der letzte Grashalm
Strebt empor, allmächtiger, hehrer Lichtquell,
Groß beherrschend unseren ganzen Weltkreis —
Spiegel der Gottheit!

Dir sei ganz mein Wesen zum Preis, o Sonne!
Was ich bin und jegliches Lied — von dir ist's:
Dir als Opfer steig' es, so lang ich atme,
Rein in die Höhe!

Ob du aufgehst, göttliche Wahrheit spendend,
Blüten weckend rings auf verjüngtem Erdkreis,
Ob dein Strahl Vernichtung uns droht und dennoch
Köstliches reifest,

Ob du, tief von Wolken verhüllt, uns dennoch
Schenkst das Taglicht, ob in des Winters Starrheit
Uns Erlösung kündet dein ferner Lichtschein —
Sei uns gesegnet!

Immer kommt ja, immer das Heil von dir uns!
Wie sich machtlos zuschließt vor dir mein Auge,
Doch in deinem Licht nur allein die Welt sieht —
So auch die Seele.

Kann ich, heil'ges Rätsel, dich niemals fassen,
Gibst du dennoch Alles mir: Licht und Liebe,
Kraft und Schönheit, Wärme wie süße Freude —
Alles, was dein ist!

Fremd und schaurig fühl' ich die Nacht: ihr Kind nicht,
Untertan nicht ihren Gewalten bin ich,
Und mein Lied tönt nimmer dem dunklen Schmerze,
Unser'm Bezwinger.

Naht er mir, verhüll' ich mein Haupt und schweige;
Nicht zum Klagen ward mir das Lied! Du gabst mir's,
Sonnenstrahl, du leuchtender Gottesbote,
Dir ist's gelungen!