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Die Welt wird nur von Menschen verändert,
Die nicht von ihr verändert werden.
                                           
Jean Paul
 

II. Gestalten
 

König Emrich
Der Verurteilte
Ernest Combier
Der Erkorene
Wjera Sassulitsch
Die tolle Liese
Im Schnee
Heldentod
 

König Emrich


"Wär' Alles mir entgegen, ich riefe dennoch: Nein!
Ich trag' es nicht, der  Z w e i t e  im Ungarland zu sein,

Den Sinn voll stolzer Herrschlust, das Herz voll Tatendrang,
Ein Schatten nur des Königs zu sein mein Leben lang!

Was trennt mich von dem Glücke? was hat  s e i n  Haupt geweiht?
Daß früher er das Licht sah um eine Spanne Zeit?

Weil  v o r  mir ihm gewiegt hat derselben Mutter Arm,
Soll stets das Haupt ich neigen vor ihm in stillem Harm?

Es rollt durch meine Adern dasselbe Königsblut,
Und meine Stirne trüge die Krone auch so gut!

So trotz' ich denn dem Schicksal, so lang ich's nur vermag:
Es blühe seiner Herrschaft kein einz'ger Friedenstag!"

So schwor sich Prinz Andreas mit übermüt'gen Sinn
Und streute seine Schätze in eitlem Prunke hin.

Und zog, um Anhang werbend, durch's ganze Ungarland,
Die Fahne der Empörung in kühn erhob'ner Hand.

Doch immer zu erschöpfen in schonender Geduld
War König Emrich's Langmut ob seines Bruders Schuld.

Gedenkend seiner Ahnen, im blut'gen Bruderstreit,
Im Kampfe um die Krone Jahrhundertlang entzweiht,

Bekämpft' er den Empörer mit gleichen Waffen nicht:
Er zeigte statt des Argwohns ihm stete Zuversicht.

So fest und stolz, als unstet und eitel jener war,
Auf gutes Recht sich stützend, nicht scheuend die Gefahr,

Versammelt er die Stände des Landes um den Thron
Und ließ zum künft'gen König ernennen seinen Sohn.

Entflammt durch diese Kunde zu off'nem Widerstand,
Rief Prinz Andreas trotzig zum Kampfe auf das Land,

Und bald vernahm der König: "Er naht mit Heeresmacht!"
Da sprach er: "Hätt' ich Unrecht, ich wär' um Schutz bedacht."

Es baten die Getreuen: "Den Adel ruf' zur Pflicht!"
Er sprach: "Was selbstverständlich, das sag' ich Edlen nicht."

Doch unter manchen Edlen erscholl ein lockend Wort:
"Ist uns der strenge König ein wünscheswerter Hort,

Der uns entzieht die Willkür und uns'rem Sein den Glanz,
Der uns'rem Lande aufdringt Gesetze von Byzanz?

Laßt uns zu Prinz Andreas, dem Lebensfrohen steh'n:
Da ist ein lust'ges Treiben, wo seine Fahnen weh'n!"

Und als Andreas nahte zu jähem Überfall,
Da war in  s e i n e m  Lager der Edlen größ're Zahl.

Der König hört' die Kunde und stand erstarrt und stumm;
Doch seine Treuen schwangen die Schwerter ringsherum:

"O Herr; gib rasch das Zeichen zum Kampf, er ist geweiht!
Zum Siege wie zum Tode sind wir für dich bereit!"

Nach langem Schweigen richtet sich Emrich hoch empor.
"Weil meines Volkes Hälfte das Pflichtgefühl verlor,

Soll ich es auch verlieren? ward mir dies Reich zu Teil,
Daß seiner Kinder Blut mir für Bruderzwist sei feil?"

Er spricht's und löst gelassen sein Schwert und wirft es fort.
"Er gibt sich auf, o Himmel!" tönt rings das Klagewort.

Er aber schlingt den Mantel Sankt Stephan's stolz um sich
Und setzt die heil'ge Krone auf's Haupt sich feierlich,

Er nimmt zur Hand das Zepter: so geht er ganz allein
Entgegen dem zum Kampfe schon fest geschloß'nen Reih'n,

In's Lager der Empörer und ruft, daß hell der Klang
Von seinen Worten schmettert der Krieger Schar entlang:

"Wohl möcht' ich seh'n den Ungar, der nicht vor Schande bebt,
Wenn er 'gen König den Frevlerarm erhebt!" —

In namenlosem Staunen, verwirrt und fassungslos
Eröffnen sie den Weg ihn; und sieh! er schreitet groß

An ihnen still vorüber — er hat das Zelt erreicht
Des fürstlichen Rebellen, der jetzt vor ihm erbleicht.

Er faßt ihn an dem Arme, im Blick ein stumm' Geheiß,
Und führt hinweg ihn ruhig aus seiner Ritter Kreis,

Hinweg aus seinem Lager; und ohne Widerstand
Weicht Alles vor den Beiden; es hebt sich keine Hand.

Und als des Königs Krieger ihm nun entgegengeh'n,
Da winkt er ihnen, ferne von ihm noch still zu steh'n,

Und wendet sich zum Bruder. "Was hat dich jetzt besiegt?
Das heil'ge Recht! Wohl dem, der zu spät nicht ihm erliegt!

Wohl dir, daß noch das Blut nicht an deinen Händen klebt,
Das du vergießen wolltest zum Ziel, das du erstrebt!

Ich wollte dich verschonen; mir graute vor dem Zwang,
In welchem manch' ein Ahnherr die Brüder Jahre lang

Ließ schmachten nach der Freiheit; ich gab dir volle Macht
Und einen Troß von Kriegern, und reicher Schätze Pracht,

Um nach des Vaters Wunsche in's heilige Land zu zieh'n,
Dem Ehrgeiz zu genügen im Kampf mit Saladin! —

Du hast's verspielt; erzwungen hast du Kerkerhaft,
Vor welcher ich dich schützte mit meiner besten Kraft.

Wenn deine Jugend tatlos dem Schicksal heute grollt,
Sei eingedenk im Herzen: ich hab' es nicht gewollt!

Und würde je die Krone, die heißersehnte, dein,
Du könntest dennoch niemals ein echter König sein:

Wer selbst sich nie beherrschte, wer nie sich überwand,
Dem gibt auch Gott das Zepter vergebens in die Hand!"

Der Verurteilte*

Von einem schweren Schlag erbebt,
Noch eh' die Nacht den Fittig hebt,
Die düst're Kerkerpforte;
Ein fahler Schein
Dringt jäh herein
Und feierliche Worte:

"Wach' auf, wach' auf zu dieser Frist!
Vernimm, daß du gerichtet bist!
Der Tag beginnt zu grauen:
Zum letzten Mal
Wird seinen Strahl
Dein Auge heute schauen!"

Doch hatt' er lange schon gewacht,
Dess' Auge jetzt aus Kerkersnacht
Der Tür entgegenstarrte.
"Ich bin bereit;
's lange Zeit,
Daß ich den Spruch erwarte." —

"Du hast bereut mit Herz und Mund:
Nun gib auch deinen Namen kund!
Auch Mördern winkt noch Gnade;
Du hast vielleicht
Sie dann erreicht
Auf deinem Todespfade." —

Der Schuld'ge hebt das Haupt empor:
"Die Welt kann das, was ich verlor,
Mir nie mehr wiedergeben;
Es ist vorbei,
Der Stab entzwei!
Ich hab' verwirkt mein Leben.

Doch ob mein Sein zusammenbrach —
Von bitterster, von größter Schmach
Bin ich verschont geblieben.
Ich steh' allein
Mit meiner Pein,
Gerettet sind die Lieben!

Das Weib, die Kinder, mir geschenkt,
Sie blieben rein und ungekränkt;
Nicht klebt seit früh'sten Jahren
Des Mörders Blut
In düst'rer Glut
Auf ihren blonden Haaren!

Vernähm' ich, kniend unter'm Beil
Daß meines Namens Nennung Heil
Und Gnade mir gewähre —
Ich bliebe stumm,
Als Heiligtum
Zu wahren seine Ehre!" —

Er spricht's — die letzten Stunden fliehn;
Man sieht ihn stumm zum Richtplatz ziehn,
Gelassen, sonder Grauen
Zum Blocke hin
Dann niederknien
Und lächelnd aufwärts schauen.

"Gelobt sei Gott, der mir erlaubt,
Von meiner Kinder teurem Haupt
Die ew'ge Schmach zu wenden!
Allein befleckt,
Darf unentdeckt,
Darf ungekannt ich enden!

Noch tönt mein Name rein und klar,
Denn wie ich heiße, wer ich war,
Wird nie bekannt im Lande!" —
Sein Wort verklingt,
Das Fallbeil sinkt —
Getilgt sind Schuld und Schande.

*Gerichtet zu Nimes im Februar 1875.

Ernest Combier

In Frankreich lehnt an des Kerkers Wand
Ein Jüngling in tiefem Sinnen;
Das Licht, der Lenz, aus dem er gebannt,
Sie leuchten und blüh'n ihm innen.

Er ließ zum Rekruten eingereiht,
Gefaßt mit sich walten und schaffen;
Doch als man ihm gab das Soldatenkleid,
Da wies er zurück die Waffen.

"Mein Heiland lehrt mich, zu halten wert
Und hoch meines Nächsten Leben;
Nie werd' ich bedroh'n ihn mit Feuer und Schwert,
Nie werd' ich die Waffe heben."

Sie wollten ihn höhnen: "Feiger Rekrut!"
Da hob er sein Haupt; in der Runde
Erstarb vor dem Auge voll hehren Mut
Das Wort auf jeglichem Munde.

Sie gingen zum Hauptmann. "So kennst du nicht,"
— Sprach dieser — "die Ordnung der Dinge?"
Er sagte: "Ich weiß meine Christenpflicht,
Das Ziel, nach welchem ich ringe." —

"Und wer ist der Priester, der also toll
Dein armes Gehirn dir machte?
Und wo ist das Bildnis, gnadenvoll,
Dem solches Gelöbnis man brachte?" —

"Ich weiß von Gnadenbildnissen nicht,
Noch braucht' ich Priester zu fragen,
Wie unser Erlöser handelt und spricht:
Ich weiß es seit Kindestagen.

Und kann ich nach wahrer Barmherzigkeit
Mit schwachen Kräften nur streben,
Ist nicht mein Herz wie seines, so weit,
Um Allen Liebe zu geben,

So werd' ich doch nie mit bewaffneter Hand
Auf Menschen, auf Brüder dringen;
Ich halt' im Leben und Tode stand,
Ihr könnt mich dazu nicht zwingen!" —

— "So werden die Deinen, du seltsamer Tor,
Dir einen Ersatzmann spenden?" —
— "Sie wollten; bewahre mich Gott davor,
Für mich in den Tod ihn zu senden!" —

— "Dann mußt du gehorchen." — "Lieber den Tod!
Ihr könnt mich niemals beugen.
Ich werde mit Freuden in jeder Not
Mein Glauben und Lieben bezeugen."

Da schauten sie alle, die Kinder der Welt
Voll  M i t l e i d  den Sohn des Lichtes;
Dann ward über ihn das Urteil gefällt
Vor Schranken des Kriegsgerichtes.

Man kerkert den Jüngling ein Jahr lang ein
— Vernimmst du's sonder Erröten,
Du Zeit, die sich brüstet, menschlich zu sein? —
Bloß weil er sich weigert zu töten!

Wie stolz doch die Menschen des Ausrufs sind:
"Die christliche Zeit sei gekommen."
Im Kerker das einsame Sonnenkind,
Das meint,  s i e  m u ß  e r s t  k o m m e n!

Der Erkorene

Schon hört zum hundertsten Male mit ungeduldigem Sinn
Elisabeth von England, die große Königin,
Die Bitten ihres Volkes, am Throne wiederholt,
Daß aus Europas Fürsten den Gatten sie wählen sollt'.

"Seid Ihr's nicht endlich müde, den Wunsch nach dem zu erneu'n,
Was schon in meiner Jugend ich weigerte den Getreu'n?"
— "Wir fragen uns're Fürstin, der offen steht die Welt:
Gibt's Keinen denn auf Erden, den ihrer sie für würdig hält?"

Elisabeth erwidert: "Das hab ich nicht gesagt.
Ich weiß ein Reich, wo von Neuem jetzt Recht und Ordnung tagt
Nach schrecklichem Verfalle; das ist ein ganzer Mann,
Der Fürst, der in wenig Jahren so Großes schaffen kann!

Ja, D i e s e n  halt' ich für würdig, doch Diesen ganz allein,
Wiewohl er mein ärgster Feind ist — um meine Hand zu frei'n.
Er hält mich hoch, ich weiß es, er gab mir's zu versteh'n,
Doch werdet Ihr, fürcht' ich, niemals um mich ihn werben sehn."

— "O Herrin, kaum ist's möglich! Wen Deine Gunst erwählt,
Der wird nicht widerstehen; der Fürst ist wohl vermählt?
Doch Ehen sind ja lösbar!" — "Nein, dieses ist es nicht!"
Erwidert rasch die Fürstin mit lächelndem Angesicht.

— "So ist es wohl ein Römling? O, der bekehrt sich noch!" —
Die Königin schüttelt lachend das Haupt. "O nie! nicht doch!
Es wird auch Keinen geben, der  D e n  zu bekehren sucht!"
— "Besorgt er, daß ein Bannstrahl ihn trifft, daß Rom ihm flucht?"

— "Auch dieses nicht; er fühlt sich so sicher vor dem Bann,
Wie Jupiter vor den Blitzen." — "So nennt ihn uns!" — "Wohlan:
Habt Ihr ihn nicht erraten, der uns als Ketzer beweint?
Ich habe den fünften Sixtus, ihn selbst, den Papst gemeint!"

Wjera Sassulitsch
1878

Die Bittgesuche Morgens zu empfangen,
Erscheint der General der Zarenstadt;
Ein Mädchen steht vor ihm mit bleichen Wangen
Und überreicht ihm stumm das erste Blatt;
Er nimmt es hin und will vorübergehen —
Da fällt ein Schuß — es ist um ihn geschehen!

Doch nein — er lebt — er kann sich aufrecht halten:
Das blasse Mädchen hatte nicht gezielt,
Das, halb verborgen in des Mantels Falten
In kaum erhob'ner Hand die Waffe hielt.
Da noch vom Schuß die Wände widerhallen,
Läßt sie die Waffe rasch zu Boden fallen.

Man stürzt auf sie, man hat sie festgebunden.
"Was wolltest du?" — "Ich wollte was ich tat."
— "Du hast den Tod nur für dich selbst gefunden:"
— "Das wußt' ich, als in dies Gemach ich trat;
Ich wollt' der Welt ein lautes Zeichen geben —
— Ich hab's getan; der Preis dafür — mein Leben!"

— "Was ist durch ihn dir jemals widerfahren?"
— "Nicht mir; ich sah ihn heut' zum ersten Mal.
Ein Staatsgefang'ner litt von dem Barbaren
Die Knutenstrafe, die er anbefahl;
In roher Willkür, grundlos durft' er's wagen,
Der Menschenwürde in's Gesicht zu schlagen!"

— "Unselige! welch' törichtes Beginnen!
Dein Liebster ist's, den rächen du gewollt?"
— "Ich kenn' ihn nicht; ich kenne nur das Sinnen
Des Häftlings, dem die Stunde langsam rollt,
Die dumpfen Qualen, die am Herzen nagen,
Das eingesargt ist während Jugendtagen!"

— "Du kennst die Qual? so warst du auch gefangen?"
— "Ich war's." — "So nenne deine Schuld, den Grund!"
— "Meint Ihr, daß Schuld'ge nur in Haft gelangen?
So fragt: Die  m e i n e  tut Euch niemand kund!
Und doch in Einzelhaft zwei lange Jahre
Vergessen lebt' ich, wie in einer Bahre!

Dann ward ich frei — sie wiesen mich von dannen —
Genug! es handelt nicht mehr sich um mich;
Nicht mehr in mir — wer kann Erlebtes bannen? —
Ich leb' in Jedem, der da litt, wie ich,
Hat auch in Euren Augen er gesündigt,
Indem er licht're Zeiten Euch verkündigt!

Ein Solcher wahrt auch unter schwerster Bürde,
In Haft, dem Auswurf allen Volks gesellt,
Unnahbar seine heil'ge Menschenwürde:
Ihn trennt von Haftgefährten eine Welt.
Entsetzlich Los, wenn unter Knutenstreichen
In Staub gekrümmt — dies Letzte muß entweichen!"

Sie spricht's; die seltsam dunkelhelle Kunde
Durchtönt die Stadt und das erstaunte Land;
Es kommt der Tag, es kommt die Morgenstunde,
Wo Alles sich im Saal zusammenfand,
Um über Wjera's Los und ihr Verbrechen
Zu hören und das Urteil auszusprechen.

Da kamen Würdenträger, edle Frauen
Und Kronenräte, auf der Brust den Stern;
In dichten Scharen, nicht zu überschauen —
So lauscht das Volk auch auf der Gasse fern;
Geschwor'ne, die manch' Ehrenamt bekleiden,
Sind hier vereint zu prüfen, zu entscheiden.

Schon sind die zwölf gewählt — man liest die Klage;
Zum Schlusse frägt der Richter noch einmal:
"Bekennst du, Wjera, schuldig dich? Das sage."
Da spricht sie ohne Zaudern, ohne Wahl:
"Mögt Ihr wie immer meine Tat benennen,
Ich muß des Schusses schuldig mich bekennen."

— "Und wolltest du den Mann aus Rache töten?"
— "Ob ich ihn lebend sah, nur schreckensbleich,
Ob ich ihn sah in seinem Blut sich röten,
Ob er getroffen fiel — es galt mit gleich,
Mir galt es nur, daß laut mein Schuß erdröhne,
Als Ruf das ganze Vaterland durchtöne!

Es handelt nimmer sich um sein Verschulden,
Und den es traf, auch um den Einen nicht;
Ich fragt' Euch jetzt: wie lange wollt Ihr's dulden,
Daß Menschen man an Leib und Seele bricht?
Laß deine Kinder also nicht verderben,
Mein Volk! wach' auf! Ich rief's: nun kann ich sterben."

Im Saale herrscht gespanntes, kurzes Schweigen;
Dann steht ihr Anwalt und Verteid'ger auf,
In mut'ger Mannesrede hinzuzeigen
Auf Wjera's Schicksal, ihren Lebenslauf,
Wie sie, der Schule Zier, mit siebzehn Jahren,
Verdächtigt ohne Grund, die Haft erfahren.

Als seine Worte ihr Gefängnis schildern,
Die ganze schuldlos bitt're Leidenszeit,
Und ihr zerstörtes Sein — als diesen Bildern
Sein edles Feuer Licht und Kraft verleiht —
Da weckt nach Menschlichkeit er tiefes Sehnen,
Da schwimmt das Aug' der Richter selbst in Tränen.

Er ruft hernieder auf der Satzung Schranken
Den Abglanz göttlicher Gerechtigkeit;
Er weist in's Herz, er weist auf den Gedanken,
Dem Wjera selbstlos sich als Opfer weiht:
"Sie kann verurteilt aus dem Saale gehen,
Doch nimmer können wir beschimpft sie sehen!"

Er schweigt; noch einmal muß der Kläger sprechen:
"Darf wohl ein Mensch allein das Richteramt
An Ander'n üben? nein! dies bleibt Verbrechen,
Und ihre Tat ist vom Gesetz verdammt!
Geschwor'ne, sammelt Euch! was Ihr vernommen,
Beurteilt recht und wahr zu Aller Frommen!"

. . . Wo ist die Wahrheit? wo mit kühnem Ringen
Der Geist empor von Schluß zu Schlüssen steigt?
Wo inn're Stimmen in dem Herzen klingen,
Dem jäh sich eine Offenbarung zeigt?
Sie wissen's nicht; doch wie von heil'gen Flammen
Zu tiefst erleuchtet, stimmen sie zusammen.

Begeisterung, du schöne Himmelshelle,
Du Fremdling in dem Saale des Gericht's,
Wie wirkst du wunderbar an dieser Stelle!
O hört — die Stimme der Geschwor'nen spricht's:
"Nichtschuldig, nein!" so rufen sie verwegen
Dem Weib, das selber sich verklagt, entgegen.

"Nichtschuldig!" tönt's in hellen Jubelrufen
Minutenlang und stürmisch durch den Saal,
"Nichtschuldig!" tönt es von den Hauses Stufen
Hinab, hinaus, von Menschen ohne Zahl;
Bald wird das Wort auf freien Siegerschwingen
Die Stadt, das Land, die weite Welt durchdringen!

— Und Wjera selbst? sie steht, wie lichtumflossen;
Ihr Antlitz strahlt — nur einen Augenblick.
"O reine Lust, minutenlang genossen!
Fahrwohl, fahrwohl! ich kenne mein Geschick!"
— "Nun bist du frei!" so tönt's an ihren Ohren;
Doch selber flüstert sie: "Ich bin verloren!"

Sie weiß, das Edle jetzt vergeblich stritten,
Der Sieg nicht ihr, nur dem Gedanken galt;
Sie weiß es ach! sie hat sie längst erlitten,
Die Willkür, die tyrannische Gewalt!
Sie tritt hinaus, von Jubel laut empfangen,
Und wieder rötet Freude ihr die Wangen.

Ein kurzer Weg, von Hunderten geleitet,
Begeisterung und Freude jedes Wort —
Was will die Schar, die durch's Gedränge reitet,
Was soll der Waffenlärm an diesem Ort?
Sie kommen, Wjera in den Wagen heben,
Das Volk zerstreu'n, ihr ein Geleite geben . . . .

Sie sieht mit bitter'm Lächeln sich umrungen
Und fügt sich still und frägt auch nicht, wohin?
Sie hat das Banner der  I d e e  geschwungen,
Sie hat es aufgepflanzt mit starkem Sinn —
Mag in Verbannung oder Tod sie gehen —
Sie sieht ihr Banner durch die Lüfte wehen!

Die tolle Liese
Aus dem Ischler Volksleben

Gegrüßt, du schöne Wildnis im Sommersonnenschein!
Uraltes Schloßgemäuer auf schroffem Felsgestein,
Bekränzt von dunklen Tannen, von Wiesen grün umschmiegt,
Das holde Tal beherrschend, das dir zu Füßen liegt!

Wie alles Menschentreiben fernab von hier verklingt,
Kein Ton der Lust, des Jammers zu diesen Höhen dringt!
Gegrüßt, du hehre Stille, du Waldesmajestät,
Von Lüften nur durchsäuselt, von Stürmen nur durchweht!

Kaum ruf ich's aus — was ist es, das dort die Büsche teilt
Und scheu zugleich und hastig mir stumm entgegeneilt?
Ein halb verwildert' Weib ist's, im schlechten Bauernkleid,
Das wetterbraune Antlitz versteint für Lust und Leid.

Wildschön ist die Gebärde, mit der auf's Knie sie sinkt
Und mit erhob'nem Arme wie um Gehör mir winkt.
Sie flüstert irren Auges manch' unverständlich Wort,
Dann springt sie auf und lautlos eilt leichten Schritt's sie fort.

Die schlanken Glieder aufrecht, geschmeidig, dennoch stramm,
Erklimmt sie leicht wie Gemsen den steilen Felsenkamm,
Und ob mein Blick ihr nachfolgt, erspähend ihren Lauf —
Umsonst! schon nahm der Bergwald das Rätselwesen auf.

Wer ist's? — Ich wende talwärts erschüttert mich und bang,
Und sieh! gar bald erfahr' ich's, schon meinen Weg entlang:
Das Kind, das Beeren sammelt, der Hirt auf grünem Grund,
Das Mütterchen am Stabe, sie alle tun mir's kund.

Ist doch die tolle Liese daheim, der Berge Kind,
Ist überall und nirgends und flüchtig wie der Wind.
Ich lausche, und ihr Schicksal, ihr ganzes Leben steigt
Empor vor meiner Seele, eh' sich die Sonne neigt.

*  *  *

Am Fuß des steilen Berges, wo flink das Mühlenrad
Sich unter'm Gießbach windet, führt hügelan ein Pfad;
Wer ihn verfolgt, der glaubt wohl zum dunkeln Wald zu geh'n,
Doch sieht er bald ein freundlich Gehöfte vor sich steh'n.

Auf schwellend grünem Hügel, Fruchtbäume rings herum,
So steht das weiße Häuschen, ein Waldesheiligtum,
Umringt von stolzen Bergen, ein liebliches Idyll:
Das ist der Liese Heimat, hier ward und wuchs sie still.

Ein Abbild ihrer Gegend, so wild, so lieblich auch,
War ähnlich sie der Blüte am wilden Rosenstrauch;
Unnahbar wie die Rose in ihrem Dornenkleid
War für des Tales Burschen die stolze, scheue Maid.

Doch einst — da führt das Schicksal ihr einen Fremden nah,
Mit dunklen Rätselaugen, wie sie noch nie sie sah;
Und wie am mäch'gen Himmel ein Blitz, so war ihr Strahl,
Der erst sie tief erschreckte und dann die Ruh' ihr stahl.

Der Flötenton der Stimme, das schwarze Lockenhaar,
Die südlich leichte Anmut schien ihr so wunderbar,
Die fremde Art und Weise so neu und doch so traut —
Es war ein welscher Steinmetz, der an der Straße baut'.

Wie sie zuerst sich trafen, sich näherten gelind,
Der kühne Sohn des Südens, das scheue Alpenkind —
Ich wüßt' es nicht zu sagen; vielmehr, zu mannigfalt
Sind holde Möglichkeiten, die jeder selbst sich malt.

Stieg sie vom Fels, Diana, geschürzt ihr leicht' Gewand,
Die Sichel auf dem Haupt nicht, doch blinkend in der Hand,
Im schön geschwung'nen Arme des duft'gen Grases Last,
Dieweil von heißer Arbeit er hier hielt Mittagsrast?

Wie? oder klang beim Mähen ihr Alpenlied herab,
Das seine welsche Kehle viel süßer wiedergab,
Bis Sängerin und Echo sich jäh zusammenfand
Und er der Überraschten gar hold genüberstand?

Wie mocht' er sie erobern? mit feuriger Gewalt?
Mit sanften Schmeichelreden? mit list'gen Hinterhalt?
War's süß erschreckt, war's kämpfend, daß sich ihr Herz ergab?
Genug — er brach die Rose, die hold erblühte, ab.

Dieweil der fremde Zauber sie ganz gefangen nahm,
War's, daß der reiche Müller um sie zu werben kam,
Die schmucke Dirn reizt' ihn durch die Sprödigkeit,
Vermißt' er auch die Schätze in ihrem Brautgeleit.

— Als stürzten rings die Berge, die hochgetürmten, ein,
So starrten Liesens Eltern bei ihrem raschen "Nein!"
Der Vater wollt' sie schlagen — die Mutter schützte lind
Vor seinem Zorn das einz'ge, das widerspenst'ge Kind.

Sie schwieg, hätt' ihrer Mutter auch beichten sie gewollt;
Verlangt' es doch ihr Liebster, daß sie noch schweigen sollt'.
Was hätt' sie nicht erduldet und freudig nicht getan
Für ihn, zu dem sie aufsah, den vielgeliebten Mann?

Und doch — er schien verändert und kühl in jüngster Zeit,
Wie wohl sie sich's verhehlte in inn'rer Bangigkeit;
Oft harrte sie vergebens und mißt' ihn bitter schwer,
Er kam zerstreut und flüchtig, dann kam er nimmermehr.

Sie eilt' zum Straßenbaue und fragte bang um ihn
Und hört', er sei von dannen, man wisse nicht, wohin!
Er sei gar froh geschieden und wolle Städte schau'n,
Wohl sei er's müde, Straßen im Hochgebirg zu bau'n.

— Die arme Liese preßte zurück den Jammerschrei,
Der jäh sich ihr entrungen, und wankte stumm vorbei.
"Warum so eilig, Schöne? Du warst gewiß sein Schatz?
So warte doch, wir füllen dir willig seinen Platz.

"Da sieh — hier hast du Auswahl! — Ei, finsteres Gesicht!
Der fand sich längst schon Bess'res als dich, der lose Wicht!"
— So ihr den Weg verstellend, mit täppisch rohem Scherz
Zerfleischen seine Freunde ihr schwergetroff'nes Herz.

Sie floh mit schwanken Schritten; o nur im Wald allein,
Allein mit Schmach und Jammer und fern dem Spotte sein!
Sie hatte keine Tränen: wie war die Welt so leer,
Nur Bitternis und Schande und Meineid ringsumher!

So schleicht, zu Tod verwundet, ein Reh dem Dickicht zu,
Wie Liese kehrt; nach Hause; doch ward ihr keine Ruh'.
Erspäht hatt' ihren Umgang des Müllers Eifersucht,
Der sagt' es heut' dem Vater, der ihr darob geflucht.

Doch war sie nicht zu finden; weh ihr, wenn sie erschien!
Nun kam sie still des Weges, die falsche Sünderin;
Was stundenlang sich häufte von elterlichem Zorn,
Ergoß sich blind auf's Haupt ihr, ein unerschöpfter Born.

"Du alter Eltern Sorge, erwählt zur Müllerin,
Zur angeseh'nen Bäurin, wirfst buhlend dich dahin
Dem nächsten Vagabunden, der durch die Lande streicht,
Wer weiß? vielleicht den Galgen verdient und bald erreicht?

O Schande, dies zu hören aus eines Freiers Mund,
Mit liederlichen Welschen zu wissen dich im Bund!
Du kommst nach langen Stunden zurück vom Stelldichein
Und meinst, noch meine Tochter und hier daheim zu sein?!

Hinweg, verworf'ne Dirne! Du, nimmermehr mein Kind!
Geh' hin zu deinem Liebsten, wo deinesgleichen sind!
O wärst du nie geboren, zu schänden mir mein Haus!
Du hast nun keine Heimat mehr, — fort von hier, hinaus!"

— Der grausam sie hinausstieß in jähem, bitter'n Groll,
Nicht ahnt' er, daß von Jammer ihr Herz schon übervoll,
Daß ihr verstörtes Dasein, durch Alles, was er sprach,
Den letzten Halt verlierend, geknickt zusammenbrach.

Als sie verzweifelt fortlief zum tiefsten Waldesgrund,
Da meint' er streng, befriedigt: "Die Straf' ist ihr gesund!"
Er schalt der Mutter Bangen: "Du warst mit ihr zu gut!
Nur meine Strenge bessert das widerspenst'ge Blut!"

O schwer betörter Vater! ja wohl, sie ward gesund:
Sie fühlt' sich nicht mehr elend, verlassen, todeswund;
Und in dem tollen Wirrsal, das ihr im Haupte kreist';
Blieb nichts zurück, was Jammer und nichts, was Freude heißt.

Geschändet und verlassen, verstoßen, heimatlos!
Dies war ihr letzt' Bewußtsein, da hin sie sank ins Moos
Zu Tod erschöpft, von Sinnen; der junge Tag erwacht',
Mit ihm ihr junger Körper — im Geiste blieb es Nacht.

Die alten Eltern starben, das Haus ward still und leer,
Die Liese irrt' durch Wälder und kehrte nimmermehr;
Denn brachte man voll Mitleid gefesselt sie nach Haus,
So sprengte sie die Bande und eilte wild hinaus.

Und dennoch, gleich der Schwalbe, die schon umkreist ihr Nest,
Die Menschennähe meidet und doch von ihm nicht läßt,
So blieb die arme Irre im Kreise festgebannt,
In heimatlichen Bergen, von jedermann gekannt.

Im Winter, wenn aus Wäldern und von der Berge Schnee
Zu Häusern sie herabtreibt und zähmt des Hungers Weh,
Da schiebt man vor die Türen ihr Speisen und Gewand,
Denn gleich dem Wild verschmäht sie das Brot aus Menschenhand.

Warum sie, wenn ein Fremder in ihre Wälder dringt,
Mit flehender Gebärde vor ihm auf's Knie wohl sinkt,
Hat Keiner noch erraten; doch Keinem kam sie nah,
Der nicht zu tiefst erschüttert auf sie herniedersah.

— So schwinden ihr die Jahre, so lebt sie gleich dem Wild,
In traurigster Zerstörung ein edles Menschenbild.
Für tausend stumpfe Herzen, die Schande, Schuld und Schmach
Mit eklem Gleichmut tragen — hier eins, das d'rüber brach!

Im Schnee

Die schaurige Luft ist regungslos,
Die Erde starr bis in den Schoß,
Durch eisige Nebel dringt kalt und fahl
Des Mittags gedämpfter, bleicher Strahl.

Die Arme über dem Herzen verschränkt,
Das Antlitz tief auf die Brust gesenkt,
Wie klaglos erstarrt in stummem Weh —
Was kauerst du, Mädchen, umringt von Schnee?

Erschüttert und ratlos steh' ich allein
Vor dir in banger, unsäglicher Pein;
Wie wagst du zu schlafen, unglückliches Kind,
Wenn Himmel und Erde so frostig sind?!!

O hast du verloren so viel,
Daß ewiger Schlaf dein ersehntes Ziel?
Bedrückt dich dein ersehntes Ziel?
Ist Alles dahin ohne Wiederkehr?

Vergib es denn, daß mein zitternder Arm
Empor dich rüttelt zu neuem Harm!
Ermanne dich! trage des Daseins Lauf,
Du bist zum Verzagen zu jung — steh' auf!

Erfuhrst du so früh die bittere Pein,
Verraten, getäuscht in der Liebe zu sein?
Es tröstet ein Gott, die schuldlos sind:
Steh' auf, du armes, verlassenes Kind!

Ist's mehr als verlor'ne Liebeslust?
Beweinst du dich selbst, der Ehre Verlust?
Die bittere Reue macht wieder dich rein:
Steh' auf, beginn' ein neues Sein! — —

Als endlich das Mädchen sich leise regt
Und fragend empor die Augen schlägt —
Was seh' ich? o Freude! Dank dem Geschick!
Welch' schuldloser, klarer Kinderblick!

Sie sieht mich angstvoll gebeugt uns spricht:
"Was ist mir gescheh'n? ich weiß es nicht."
Und über die Wangen so kalt und bleich,
Wie rieseln die Tränen ihr warm und reich!

"Du hast hier geschlafen, von Schnee umringt!
O weißt du denn nicht, daß Tod dies bringt?"
— Und steh' — es bricht aus den Tränenflor
Ihr sanft ein mühsames Lächeln hervor.

"Verzeiht — ich hab' Euch Schrecken gemacht!
An's Sterben hab' ich nicht gedacht.
Mein Weg war weit und jüngst war ich krank
Und ach! so kam's, daß zu Boden ich sank.

Es ist nun vorbei — ich fühle schon Kraft —
O Dank!" Sie hatte sich aufgerafft
Und zupft ihr ärmliches Schürzchen zurecht,
Ihr Kleid so rein, ihr Tüchlein so schlecht,

Und geht . . . — "Halt' ein! Erzähle mir doch,
"Wo willst du hin? wie weit ist es noch?"
— "Habt Dank! ich muß an die Arbeit geh'n."
— "Du bist zu schwach, sie schon zu verseh'n!"

Doch lächelnd verneint sie's und eilt dahin:
Zur Klage zu stolz ist dieser Sinn.
Es werde dein rauher Pfad dir lind!
Beschütze, behüte dich Gott, mein Kind!

O trauriger Tag, als Armut ich sah,
Von Menschen umringt, den Verschmachten nah'!
O glücklicher Tag, da bewundernd stumm
Ich stand vor so stillem Heldentum!

Heldentod*

Im Frührot leuchten die Alpenhöh'n,
Auf schmeichelnden Lüften hat der Föhn
Die Wolken fortgetragen,
Die, tief verhängend den Sonnenstrahl,
Als Regen hernieder strömten in's Tal
Seit ungezählten Tagen.

Am Abhang steiler Bergeswand,
Die kühn umfängt das Schienenband,
Da steht auf hoher Warte
Der Wächter der Bahn im Sonnenlicht,
Wie stets im Regen und Nebel dicht
Er hier des Frühzugs harrte.

Es glänzt der Morgen weit und breit
An lang entbehrter Herrlichkeit,
Daß selber dem Alpensohne
Das Herz nun höher, freier schlägt,
Da Berg um Berg im Frührot trägt
Die leuchtende Felsenkrone.

Nun ist's, als bebe leise der Grund;
Von fernher tut's ein Brausen kund:
Der Frühzug ist in der Nähe;
Doch nimmer kommt er noch in Sicht:
Die Wende des Bergs gestattet es nicht,
Daß ihn das Aug' erspähe.

Da — jählings dröhnt's von oben her:
Ein Felsstück löst sich dumpf und schwer
Vom durchgeweichten Grunde
Und rollt herab und liegt nun schräg
Inmitten auf dem Schienenweg —
Das Werk war's einer Sekunde.

Der Wächter blickt entsetzt, erstarrt;
Vernichtung ist's, die des Zuges harrt,
Ein Sturz in grausige Schlünde;
Der Führer des Zugs kann nichts erschau'n,
Die Wendung deckt ihm noch das Grau'n —
Und Niemand, der es ihm künde!

Ein Augenblick, entscheidend und groß:
Es frägt sich um das Todeslos
Von Hunderten oder Mehren.
Ein Sprung — der Wächter ist auf dem Geleis',
Auf seiner inneren Stimme Geheiß,
Und wagt den Versuch, den hehren.

Die sonst im Schrecken erlahmt, die Kraft,
Sie wächst ihm in edler Leidenschaft,
In Mannesmut und Erbarmen;
Er stemmt sich gegen den schweren Stein,
Er faßt ihn an, er klemmt ihn ein,
Als tät er's mit zwanzig Armen.

Vielleicht! — doch nein, umsonst! Er kann,
In bebender Hast, der einzelne Mann,
Des Felsstücks Herr nicht werden.
Entsetzen! schon braust heran der Zug
Und die er bringt in raschem Flug —
Ihr letzter Hauch ist's auf Erden.

Er springt nicht zurück! Er macht nicht Halt!
Es wächst übermenschlich ihm die Gewalt,
Er ringt in stiller Größe.
O herrlicher Sieg! Er hat's erreicht —
Es regt sich der schwere Stein, er weicht
Dem letzten seiner Stöße.

Doch schleudert die angewendete Kraft
Ihn selbst zu Boden — er stürzt erschlafft
Zurück, quer über die Schiene —
Zu spät! — Er sieht, wie das Rad sich schwingt,
Und sieht, wie der Führer zu halten ringt
Mit angstverzerrter Miene . . .

Vorbei! — Und Hunderte ahnen nicht,
Daß jetzt ein Aug' im Tode bricht
Für sie — nur der Schreckensbleiche,
Der Führer sieht's und verschwünscht den Tag,
Da solch ein Mensch als Opfer erlag,
Und segnet die Heldenleiche.

*  *  *
Nach einer Begebenheit, die sich im Sommer 1882
in der Schweiz zugetragen hat.