weiter
 

I.
Larenopfer 2
(1896)
 

Sphinx
Träume
Maitag
König Abend
An der Ecke
Heilige
Das arme Kind
Wenns Frühling wird
Als ich die Universität bezog
Superavit
Trotzdem
Herbststimmung
An Julius Zeyer
Der Träumer
Die Mutter
Unser Abendgang
Kajetan Týl
Volksweise
Das Volkslied
Dorfsonntag
Mein Geburtshaus
In dubiis
Barbaren
Sommerabend
Gerichtet
Das Märchen von der Wolke
Freiheitsklänge
Nachtbild
Hinter Smichov
Im Sommer
Am Kirchhof zu Königsaal
Vigilien

Sphinx

Sie fanden sie, den Schädel halb zerschlagen,
in starrer Hand das heiße Rohr von Stahl.
Die Menge gaffte.—Bis der Rettungswagen
sie brachte in das gelbe Stadtspital.

Nur einmal hat das Aug sie aufgeschlagen.  . . .
Kein Brief!, kein Name, nur ein Kleid, ein Schal;
dann kam der Arzt mit seinem leisen Fragen
und dann der Priester.— Sie blieb stumm und fahl.

Doch spät bei Nacht, da wollt sie etwas sagen,
gestehn . . . Doch niemand hörte sie im Saal.
Ein Röcheln. — Dann ward sie herausgetragen,
sie und ihr Schmerz. —
                                Und draußen steht kein Mal.

Träume

Es kommt die Nacht, reich mit Geschmeiden
geschmückt des blauen Kleides Saum; —
sie reicht mir mild mit ihren beiden
Madonnenhänden einen Traum.

Dann geht sie, ihre Pflicht zu üben,
hinfort die Stadt mit leisem Schritt
und nimmt, als Sold des Traumes, drüben
des kranken Kindes Seele mit.

Maitag

Still! — Ich hör, wie an Geländen
leicht der Wind vorüberhüpft,
wie die Sonne Strahlenenden
an Syringendolden knüpft.

Stille rings. Nur ein geblähter
Frosch hält eine Mückenjagd,
und ein Käfer schwimmt im Äther,
ein lebendiger Smaragd.

Im Geäst spinnt Süberrhomben
Mutter Spinne Zoll um Zoll,
und von Blütenhekatomben
hat die Welt die Hände voll.

König Abend

Wie König Balthasar einst nahte,
die Stirn vom Kronenreif erhellt,
so tritt im purpurnen Ornate
der König Abend in die Welt.

Der erste Stern führt ihn wie jenen
bis an den fernsten Hügelsaum;
dort findet Mutter Nacht er lehnen
mit ihrem Kind im Arm, dem Traum.

Dem bringt er just, wie jener Weise
des Orients, das Gold, gehäuft, —
das Gold, das uns der Knabe leise
erlösend in den Schlummer träuft.

An der Ecke

Der Winter kommt und mit ihm meine Alte,
die an der Ecke stets Kastanien briet.
Ihr Antlitz schaut aus einer Tücherspalte
froh und gesund, ob Falte auch bei Falte
seit vielen Jahren es durchzieht.

Und tüchtig ist sie, ja, das will ich meinen;
die Tüten müssen rein sein, und das Licht
an ihrem Stand muß immer helle scheinen,
und von dem Ofen mit den krummen Beinen
verlangt sie streng die heiße Pflicht.

So trefflich schmort auch keine die Maroni.
Dabei bemerkt sie, wer des Weges zieht,
und alle kennt sie — bis zum Tramwaypony;
sie treibts ja Jahre schon, die alte Toni. . . .
Und leise summt ihr Herd sein Lied.

Heilige

Große Heilige und kleine
feiert jegliche Gemeine;
hölzern und von Steine feine,
große Heilige und kleine.

Heilge Annen und Kathrinen,
die im Traum erschienen ihnen,
baun sie sich und dienen ihnen,
heilgen Annen und Kathrinen.

Wenzel laß ich auch noch gelten,
weil sie selten ihn bestellten;
denn zu viele gelten selten —
nun, Sankt Wenzel laß ich gelten.

Aber diese Nepomuken!
Von des Torgangs Luken gucken
und auf allen Brucken spuken
lauter, lauter Nepomuken!

Das arme Kind

Ich weiß ein Mädchen, eingefallen
die Wangen. — War ein leichtes Tuch
die Mütter; und des Vaters Fluch
fiel in ihr erstes Lallen.

Die Armut blieb ihr treu die Jahre,
und Hunger ward ihr Angebind;
so ward sie ernst. — Das Lenzgold rinnt
umsonst in ihre Haare.

Sie schaut die lächelnden Gesichter
der Blumen traurig an im Hag
und denkt: der Allerseelentag
hat Blüten auch und Lichter.

Wenns Frühling wird

Die ersten Keime sind, die zarten,
im goldnen Schimmer aufgesprossen;
schon sind die ersten der Karossen
                                 im Baumgarten.

Die Wandervögel wieder scharten
zusamm sich an der alten Stelle,
und bald stimmt ein auch die Kapelle
                                 im Baumgarten.

Der Lenzwind plauscht in neuen Arten
die alten, wundersamen Märchen,
und draußen träumt das erste Pärchen
                                 im Baumgarten.

Als ich die Universität bezog


Ich seh zurück, wie Jahr um Jahr
so müheschwer vorüberrollte;
nun endlich bin ich, was ich wollte
und was ich strebte: ein Skolar.

Erst "Recht" studieren war mein Plan;
doch meine leichte Laune schreckten
die strengen, staubigen Pandekten,
und also ward der Plan zum Wahn.

Theologie verbot mein Lieb,
könnt mich auf Medizin nicht werfen,
so daß für meine schwachen Nerven
nichts als — Philosophieren blieb.

Die Alma mater reicht mir dar
der freien Künste Prachtregister, —
und bring ichs nie auch zum Magister,
bin was ich strebte: ein Skolar.


Superavit


Nie kann ganz die Spur verlaufen
einer starken Tat; dies lehrt
zu Konstanz der Scheiterhaufen;
denn aus tausend Feuertaufen
steigt der Hochgeist unversehrt.

Bis zu uns her ungeheuer
ragt der Reformator Hus,
fürchten wir der Lehre Feuer,
neigen wir uns doch in scheuer
Ehrfurcht vor dem Genius.

Der, den das Gericht verdammte,
war im Herzen, tief und rein,
überzeugt von seinem Amte, —
und der hohe Holzstoß flammte
seines Ruhmes Strahlenschein.

Trotzdem

Manchmal vom Regal der Wand
hol ich meinen Schopenhauer,
einen "Kerker voller Trauer"
hat er dieses Sein genannt.

So er recht hat, ich verlor
nichts: in Kerkereinsamkeiten
weck ich meiner Seele Saiten
glücklich wie einst Dalibor.

Herbststimmung

Die Luft ist lau, wie in dem Sterbezimmer,
an dessen Türe schon der Tod steht still;
auf nassen Dächern liegt ein blasser Schimmer,
wie der der Kerze, die verlöschen will.

Das Regenwasser röchelt in den Rinnen,
der matte Wind hält Blätterleichenschau;—
und wie ein Schwarm gescheuchter Bekassinen
ziehn bang die kleinen Wolken durch das Grau.

An Julius Zeyer

Du bist ein Meister; — früher oder später
spannt sich dein Volk in deinen Siegeswagen;
du preisest seine Art und seine Sagen, —
aus deinen Liedern weht der Heimat Äther.

Dein Volk tut recht, — nicht, voll von wahngeblähter
Vergangenheit, die Hand im Schoß zu tragen,
es kämpft noch heut und muß sich tüchtig schlagen,
stolz auf sich selbst und stolz auf seine Väter.

Es hat dein Volk sich seine Ideale
noch nicht versetzen lassen zu den Sternen,
die unerreichbar sind und Sehnsucht glasten;

du aber mahnst, ein echter Orientale,
es möge in dem Ringen nicht verlernen
auch im Alhambrahof die Kunst zu rasten.

Der Träumer

                           I.

Es war ein Traum in meiner Seele tief.
Ich horchte auf den holden Traum:
ich schlief.
Just ging ein Glück vorüber, als ich schlief,
und wie ich träumte, hört ich nicht;
es rief.

                          II.

Träume scheinen mir wie Orchideen. —
So wie jene sind sie bunt und reich.
Aus dem Riesenstamm der Lebenssäfte
ziehn sie just wie jene ihre Kräfte,
brüsten sich mit dem ersaugten Blute,
freuen in der flüchtigen Minute,
in der nächsten sind sie tot und bleich. —
Und wenn Welten oben leise gehen,
fühlst dus dann nicht wie von Düften wehen?
Träume scheinen mir wie Orchideen. —

Die Mutter

Aufwärts die Theaterrampe
rollen dröhnend die Karossen,
abseits unter trüber Lampe
steht ein altes Weib verdrossen.

Nur wenn jäh ein Hengst mal scheute,
wars, daß sie zusammenschrecke;
niemand aus dem Strom der Leute
sieht die Alte in der Ecke.

An die neue "Größe" dachte,
von ihr sprach man nur. — Die Güte
eines Grafen, hieß es, brachte
herrlich ihr Talent zur Blüte.

Später. Jubelstürme hallten
in den Schlußklang der Trompeten. . . .
Aber draußen kams der Alten,
heimlich für ihr Kind zu beten.

Unser Abendgang

Gedenkst du noch, wie guter Dinge
wir wallten durch das Nusler Tal;
zwei kleine, blaue Schmetterlinge
verflattertcn im Abendstrahl.

Am Häuschen lehnte die Melone
dort — wie auf einem Bilde Dows,
und herrlich mit der Kuppelkrone
hob sich das Haupt der Karlshofs.

Im West war noch der Weizen golden,
blaugrün verdämmerte der Kohl;
die ersten weißen Sternendolden
umzitterten den Himmelspol.


Kajetan Týl

Bei Betrachtung seines Zimmerchens, das auf der böhmischen
ethnographischen Ausstellung zusammengestelt war.


Da also hat der arme Týl
sein Lied "Kde domov můj" — geschrieben.
In Wahrheit; Wen die Musen lieben,
dem gibt das Leben nicht zuviel.

Ein Stübchen — nicht zu klein dem Flug
des Geistes; nicht zu groß zur Ruhe. —
Ein Stuhl, als Schreibtisch eine Truhe,
ein Bett, ein Holzkreuz und ein Krug.

Doch wär er nicht für tausend Louis
von Böhmen fort. Mit jeder Fiber
hing er daran. — "Ich bleibe lieber,"
hätt er gesagt, "kde domov můj."

Volksweise

Mich rührt so sehr
böhmischen Volkes Weise,
schleicht sie ins Herz sich leise,
macht sie es schwer.

Wenn ein Kind sacht
singt beim Kartoffeljäten,
klingt dir sein Lied im späten
Traum noch der Nacht.

Magst du auch sein
weit über Land gefahren,
fällt es dir doch nach Jahren
stets wieder ein.


Das Volkslied

Nach einer Kartonskizze des Herrn Liebscher


Es legt dem Burschen auf die Stirne
die Hand der Genius so lind,
daß mit des Liedes Silberzwirne
er seiner Liebsten Herz umspinnt.

Da mag der Bursch sich süß erinnern,
was aus der Mutter Mund ihm scholl,
und mit dem Klang aus seinem Innern
füllt er sich seine Fiedel voll.

Die Liebe und der Heimat Schöne
drückt ihm den Bogen in die Hand,
und leise rieseln seine Töne
wie Blütenregen in das Land.

Und große Dichter, ruhmberauschte,
dem schlichten Liede lauschen sie,
so gläubig wie das Volk einst lauschte
dem Gottes wort des Sinai.

Dorfsonntag

Im Wirtshaus auf den blanken Dielen
schwingt sich die Jugend frisch und laut,
des Burschen Hand, so hart von Schwielen,
drückt die des blonden Mädchens traut;
bierfrohe Musikanten spielen
ein Lied aus der "verkauften Braut".

"Trinkt zu! Ich will euch heut besolden."
Der Pfarrherr. Der liebt muntern Geist.
Und wie er nach dem Tanz die Holden
zu seinem Tische kommen heißt,
da geht der Abend draußen, golden,
und lacht durch alle Fenster dreist.

Mein Geburtshaus

Der Erinnrung ist das traute
Heim der Kindheit nicht entflohn,
wo ich Bilderbogen schaute
im blauseidenen Salon.

Wo ein Puppenkleid, mit Strähnen
dicken Silbers reich betreßt,
Glück mir war; wo heiße Tränen
mir das "Rechnen" ausgepreßt.

Wo ich, einem dunklen Rufe
folgend, nach Gedichten griff,
und auf einer Fensterstufe
Tramway spielte oder Schiff.

Wo ein Mädchen stets mir winkte
drüben in dem Gräfenhains. . . .
Der Palast, der damals blinkte,
sieht heut so verschlafen aus.

Und das blonde Kind, das lachte,
wenn der Knab ihm Küsse warf,
ist nun fort; fern ruht es sachte,
wo es nie mehr lächeln darf.

In dubiis

                      I.

Es dringt kein Laut bis her zu mir
von der Nationen wildem Streite,
ich stehe ja auf keiner Seite;
denn Recht ist weder dort noch hier.

Und weil ich nie Horaz vergaß,
bleib gut ich aller Welt und halte
mich unverbrüchlich an die alte
aurea mediocritas.

                      II.

Der erscheint mir als der Größte,
der zu keiner Fahne schwört,
und, weil er vom Teil sich löste,
nun der ganzen Weit gehört.

Ist sein Heim die Weit; es mißt ihm
doch nicht klein der Heimat Hort;
denn das Vaterland, es ist ihm
dann sein Haus im Heimatsort.

Barbaren

Ich weiß von einem Riesenparke
dort, wo die Stadt sich schon verliert;
jetzt nagt die Axt an seinem Marke,
sie sagen: er wird parzelliert.

Das ist der Fürstenpark Clam-Gallas,
der Mietskasernen weichen soll,
der war doch wie ein Hain der Pallas
der raunenden Orakel voll.

Jetzt stürmen sie, die Ungeweihten,
den Ort, den kein Profaner sah:
Es übertönt der Lärm der Zeiten
das Götterwort der Pythia.


Sommerabend


Die große Sonne ist versprüht,
der Sommerabend liegt im Fieber,
und seine heiße Wange glüht.
Jach seufzt er auf: "Ich möchte lieber . . ."
Und wieder dann: "Ich bin so müd . . ."

Die Büsche beten Litanein,
Glühwürmchen hangt, das regungslose,
dort wie ein ewiges Licht hinein;
und eine kleine weiße Rose
tragt einen roten Heiligenschein.

Gerichtet

"Am Ring" stand einst ein Blutgerüst,
lang ist es her; doch wenn der Schein
des runden Monds das Rathaus küßt,
dann wallen aus dem heilgen Teyn
Gerichtete in Geisterreihn . . .
                              Weh wer sie sah!

Viel Herren fielen auf dem Ring;
die Herren finden Ruhe nicht; —
sie zogen eines Nachts: Es ging
voran Herr Christus, groß und licht,
mit ernstem, traurigem Gesicht . . .
                                Und einer sahs!

Der war ein Maler. Und im Flug
malt er, wie er geschaut, den Ring.
Er malt den ganzen Geisterzug,
dem ernst voran Herr Christus ging.
Er malt . . . bis ihn ein Fieber fing . . .
                               Jetzt ist er tot. —

Das Märchen von der Wolke

Der Tag ging aus mit mildem Tone,
so wie ein Hammerschlag verklang.
Wie eine gelbe Goldmelone
lag groß der Mond im Kraut am Hang.

Ein Wölkchen wollte davon naschen,
und es gelang ihm, ein paar Zoll
des hellen Rundes zu erhaschen,
rasch kaut es sich die Bäckchen voll.

Es hielt sich lange auf der Flucht auf
und zog sich ganz mit Lichte an; —
da hob die Nacht die goldne Frucht auf:
Schwarz ward die Wolke und zerrann.

Freiheitsklänge

Böhmens Volk! In deinen Kreisen
weckt ein neuer Genius
alte, heiße Freiheitsweisen,
und die mahnen nicht mit leisen
Worten, daß dein Fesseleisen
ganz zerschmettert werden muß.

Diese Streitpoeten blasen
lockend; und in Stücke haun
kannst du, Volk, in deinem Rasen
des Gesetzes Marmorvasen,
doch du kannst aus ihren Phrasen
keine Zukunft dir erbaun.

Tief in Herz und Sinn in treuer
Hoffnung senk die Liedersaat,
sind dir deine Dichter teuer,
daß daraus ein Lenz, ein neuer,
keime. — Was dann blieb vom Feuer,
das entflamme dich zur Tat.

Nachtbild

Auch auf der Theaterrampe
wird es stille nach und nach. —
Eine eitle Bogenlampe
schaut sich in ein Droschkendach.

Auf dem leeren Gangsteig zucken
Lichter. — Sehn nicht dort am Haus
helle Dachmansardenlucken
wie verweinte Augen aus?

Hinter Smichov

Hin gehn durch heißes Abendrot
aus den Fabriken Männer, Dirnen, —
auf ihre niedern, dumpfen Stirnen
schrieb sich mit Schweiß und Ruß die Not.

Die Mienen sind verstumpft; es brach
das Auge. Schwer durchschlürft die Sohle
den Weg, und Staub zieht und Gejohle
wie das Verhängnis ihnen nach.

Im Sommer

Im Sommer trägt ein kleiner Dampfer
auf Moldauwogen uns nach Zlichov
zu jenem Kirchlein, hoch und frei.
Im blauen Nebel schwindet Smichov; —
zur Rechten Flächen braun von Ampfer,
zur Linken stolz die "Loreley".

Wir legen an; und sieh, ein Alter
begrüßt uns leiernd: "Hej, Slovane!"
Am Friedhofsrand dann lehnen wir.
Hoch blaut des Himmels Prachtzyane,
und unser Träumen hebt, ein Falter,
auf Sonnenflügeln sich zu ihr.

Am Kirchhof zu Königsaal (aula regis)

Auf schloß das Erztor der Kustode.
Du sahst vor Blüten keine Gruft.
Der Lenz verschleierte dem Tode
das Angesicht mit Blust und Duft;
da stieg wie eine Todesode
ein Trauermantel in die Luft.

Wir sahn ihn beide und wir schwiegen . . .
Rings feierte Mittsommerlicht,
in den Syringen summten Fliegen. —
Da lag ein Schädel vor uns dicht;
aus seinen leeren Augen stiegen
verkümmerte Vergißmeinnicht.

Vigilien*

                       I.

Die falben Felder schlafen schon,
mein Herz nur wacht allein;
der Abend rafft im Hafen schon
sein rotes Segel ein.

Traumselige Vigilie!
Jetzt wallt die Nacht durchs Land;
der Mond, die weiße Lilie,
blüht auf in ihrer Hand.

                       II.

Am offnen Stubenfenster lehn ich
und träume in die Nacht hinauf;
das Mondlicht windet silbersträhnig
sich um den schwarzen Kirchturmknauf.

Sehn wenig Welten aus den Fernen
auch durch den engen Hof ins Haus, —
es füllte Licht von zehen Sternen
ein ganzes, dunkles Leben aus.

                       III.

Horch, der Schritt der Nacht erstirbt
in der weiten Stille;
meine Schreibtischlampe zirpt
leis wie eine Grille.

Goldig auf dem Bücherstand
glühn der Bände Rücken:
zu der Fahrt ins Feenland
Pfeiler für die Brücken.

                       IV.

Sie hat, halb Kind, einst eine Nacht
beim toten Mütterlein verbracht
und hat geweint und hat gewacht; —
dann gingen Jahre, Jahre sacht:
nie hat sie jener Nacht gedacht.

Und dann kam eine andre Nacht.
Da hat von Glut und Sünd entfacht
die rote Lippe Lust gelacht,
doch plötzlich — wie durch höhre Macht
dacht sie der Nacht der Leichenwacht.

*Vigil=lat. Nachtwache
  Vigilien= im alten Rom 4 Nachtwachen zu je 3 Stunden.