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Serbische Volkslieder
 

Die Waise
Die Sonne und die Wolke
Zawerucha
Das Waldweib
An den aufrührerischen Bascha

 

I.
Die Waise

Längs des Baches schritt am Abend
Hinter ihren Gänschen her,
Schön wie Morgenrot, ein Mädchen,
Flüstert leise, sorgenschwer:

"Kommet, kommet, meine Gänslein,
Kommet, kommt mit mir nach Haus,
Klagen will ich Euch mein Leiden,
Aber plaudert's Niemand' aus!

Wird es denn mein Herz ertragen,
Wenn ich mich zu dem hinneige,
Der mich flehet unablässig,
Daß ich liebe ihn, und schweige?

Sagt, bin ich denn frei geboren,
— Denn die Mutter kannt' ich nimmer, —
Daß ich ihm so wert und teuer,
Der nicht sieht auf Goldes Schimmer?

Mag, wer will es mir verdenken,
Ihm hab' ich mein Wort gegeben,
Und ich werd' ihn ewig lieben,
Ihm gehört mein Herz, mein Leben!"

Weiter treibt sie ihre Gänschen,
Findet nirgends stille Ruh';
Das Gesicht bedeckt mit Tränen
Ruft sie ihren Gänschen zu:

"Kommet, kommet, meine Gänslein,
Kommet, kommt mit mir nach Haus,
Klagen will ich Euch mein Leiden,
Aber plaudert's Niemand' aus!"

II.
Die Sonne und die Wolke

Hei, wie die Sonne strahlt, wärmt und erhellt,
Schmuck, wie die Mohnsblüte pranget die Welt!
Fern nur ein Wölkchen die Sonne befehdet,
Blähet sich dünkelhaft und also redet:
"Was wohl die Sonne nur denkt und meint,
Daß sie die Erde so hell bescheint?
Wo ich verfinstere, da klärt sie auf!
Will ihr entgegen im raschen Lauf;
Will sie bedecken und fest umschlingen!"
Sprach's, und entfliehend mit ganzer Macht
Deckt sie die Sonne durch finstere Nacht.
Doch — wie sie hinschwebt im sonnigen Raum —
Glänzt sie nun selber in goldenen Ringen,
Herrlich umfangen vom Purpursaum.

So bricht am Guten des Lasters Kraft,
Weil ja zur Tugend die Tugend schafft.

III.
Zawerucha

Nuciana, blond von Haaren,
Glich dem Wuchse einer Zeder;
Wer sie schaute, war entzücket,
Lieben mußte sie ein Jeder;
Sie allein blieb kalt.

Um die schlanke, blonde Schöne
Zawerucha warb, der Kühne,
Bat und flehte, heiß und innig;
Doch sie sprach mit stolzer Miene
Herz-und liebelos:

"Teurer! sieh', es flieht die Wolke,
Blendendweiß, wie süße Butter;
Bringe mir ein zartes Streifchen,
Und ich lasse Vater, Mutter,
Ziehe mit dir fort!"

Und mit männlichem Entschlusse
Schwingt auf's Pferd sich der Ukraine.
"Lebe wohl!" spricht er zum Liebchen,
Und enteilt im Abendscheine,
Nach der Wolke Flug.

Und er jagt im vollen Laufe,
Daß das Herz im Leib ihm zittert,
Und er jagt mit Sturmesflügeln,
Von dem wilden Schmerz erbittert
Und der Liebe Qual.

Und er jagt mit blut'gen Sporen,
Daß des Rosses Nüstern keuchen,
Doch der Wolke lichte Streifen
Kann er nimmermehr erreichen,
Denn sie flieht vor ihm.

Und sein Auge wölkt sich trüber
Und sein Pferd, es bricht zusammen,
Und vor Leid und bittrer Sehnsucht
Ruft er sterbend ihren Namen:
"Nuciana" noch!

IV.
Das Waldweib

Zu dem Waldweib sanft ein bleiches Mädchen tritt,
Gram im Herzen; denn es war der letzte Schritt.
Bebend fleht sie um der Zaub'rin Wissen:
Den Geliebten soll die Arme missen.

Grinsend spricht die schwarze Ungeheure
"Hör' drei Rätsel an, doch mußt du schweigen;
Wenn du sie errätst, sei dein der Teure,
Doch wo nicht, so fällst du mir zu Eigen.

Sag', was Wachstum hat und keine Wurzel,
Sag', was läuft und ziehet ohne Zügel,
Sag', was blüht und hat doch keine Blüte?"

Totenblaß das Mädchen denkt und sinnt,
Bis die Frist, die schreckliche verrinnt,
Und das Weib, das Wort getaucht in Hohn,
Also grinst im schadenfrohen Ton:

"Steine haben Wachstum ohne Wurzel
Wasser läuft und ziehet ohne Zügel,
Schwarzkraut blüht und hat doch keine Blüte!"


Schon erschallt vom höllischen Getöse
Berg und Tal; den Sieg errang die Böse,
Da auf einmal zuckt ein heilig Licht
Durch des Mädchens Geist, sie winkt und spricht:

"Auch die Liebe wächst und hat doch keine Wurzel,
Auch der Glaube läuft und ziehet ohne Zügel,
Auch die Hoffnung blüht und hat doch keine Blüte."


Heulend flieht das Weib; ein Blitz erblinkt —
An des Mädchens Brust der Teure sinkt.

V.
An den aufrührerischen Bascha

Hörst Du sie sausen,
Die Stürme, die Wogen?
Es kommen die Schiffe
Der Rache gezogen!
Wehe dir, Skadar!

Treuloser! beuge
Die Stirne zur Erde,
Daß Dir im Staube
Vergebung noch werde
Vor dem Padischah!

Wahnsinn ergriff Dich,
Sinnesverwirrung!
Wen nur befehdet
Deine Verirrung?
Hast Du noch Augen?

Bist Du erblindet?
Horch auf die Winde!
Laß sie in's Ohr Dir
Rauschen geschwinde,
Öffne die Sinne!

Schon bebt die Erde
Vor jenem Heere,
Das sich auf Bergen
Und über die Meere
Gegen Dich wälzet!

Ha! welch ein Kriegslärm!
Aus Anatolien
Schreitet der Heerbann
Und aus Rumelien.
Harrest du sinnlos?

Fleh', daß der Bascha
Sich zu Dir wende,
Flehe und bitte
Daß er Dir spende
Frühere Gnade!